Ex-Diplomat und SP-Nationalrat Tim Guldimann
«Swissness löst bei mir Brechreiz aus»

Ex-Botschafter Tim Guldimann sprach gegenüber zwei Journalisten Klartext: Die Bundesbehörden hätten in Sachen Zuwanderung alles falsch gemacht, Swissness löse bei ihm Brechreiz aus und die Schweiz werde irgendwann nicht mehr um den EU-Beitritt herumkommen.
Publiziert: 02.02.2016 um 19:41 Uhr
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Aktualisiert: 28.09.2018 um 18:50 Uhr

Manchmal muss viel Wasser die Spree herunterfliessen, bis man öffentliche Wahrnehmung erreicht. Das könnte man zum Buch «Aufbruch Schweiz» bemerken, das zwei Schweizer Journalisten mit und über SP-Nationalrat Tim Guldimann herausgegeben haben. Ende 2014 trafen sie den damals scheidenden Schweizer Botschafter in Berlin zum Interview.  Am Schluss – nach einem 35-stündigen Gesprächsmarathon – entstand daraus das erwähnte Buch. Es erschien im letzten August.

Jetzt hat das Buch die «NZZ»-Redaktion an der Limmat erreicht: In der heutigen Ausgabe bespricht der Inlandchef das Werk genüsslich. Denn schliesslich war Guldimann vor seiner Zeit als SP-Nationalrat ja ein Top-Beamter der Schweizer Eidgenossenschaft. Und was er im Buch  sagt, ist alles andere als diplomatisch zurückhaltend. Vor allem wenn es um die Noten geht, die er seinem ehemaligen Arbeitgeber austeilt. 

Die Fragen, welche die «NZZ» stellt sind nachvollziehbar: «Bei der Lektüre von Guldimanns zuweilen ganz und gar nicht diplomatischen Statements fragt man sich, wie der Mann es schaffte, als Botschafter die Interessen der Schweiz zu vertreten.» Die Zweifel würden noch genährt, wenn man lese, dass Guldimann findet, die Bundesbehörden hätten in den letzten Jahren bezüglich Zuwanderung fast alles falsch gemacht. «‹Der Staat ist gefordert, seine verschlampten Hausaufgaben anzugehen›, fordert er. Noch bedenklicher als die Schlamperei der Verwaltung sei, ‹dass der Bundesrat auch seit dem 9. Februar 2014 lange passiv blieb›». Hätte Guldimann diese Aussagen noch während seiner Amtszeit gemacht, er wäre wohl auf die eine oder andere Art diszipliniert worden.

SP-Nationalrat Tim Guldimann in einem Café in der Nähe seiner Wohnung in Berlin.
Foto: MARCUS HÖHN
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Auch einen Erklärungsansatz zum Titel liefert die Zeitung: «Wohin soll die Schweiz aufbrechen?» Guldimanns Mantra lautet, irgendwann werde die Schweiz nicht mehr um den EU-Beitritt herumkommen, auch wenn eine Mehrheit dafür nicht in Sicht sei. «Politik muss von Überzeugung und nicht von Meinungsumfragen geleitet sein», sagt der Neo-Nationalrat. Das Positionspapier, das er in den 1990er Jahren zusammen mit Luzius Wasescha geschrieben und aufgrund dessen die SP als erste grosse Partei das Beitrittsziel verkündet habe, bleibe gültig. Laut «NZZ» würde der EU-Turbo das Steuer am liebsten sofort herumreissen. Zur Not tue es aber zunächst eine grundlegende Mitte-Links-Verständigung.

Pessimistisch fügte der Auslandschweizer Guldimann laut «NZZ» an, die Schweiz wisse nicht mehr, wer sie sei und was sie wolle. Deshalb lasse sich die Schweiz von einem neuen Begriff leiten, «der in mir geradezu Brechreiz auslöst und nahtlos den Begriff des ‹Sonderfalls› zu ersetzen verspricht: Swissness!» Für die «NZZ» ist klar: Guldimann will der Schweiz wahrhaftige Weltoffenheit aufpfropfen, keine Kuhglocken-Imagepolitur verpassen. (eis)

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