ETH-Lausanne-Präsident Martin Vetterli über das Corona-Tracing
«Wer die App runterlädt, handelt solidarisch»

Der Präsident der ETH Lausanne (EPFL) ist einer der einflussreichsten Wissenschaftler der Schweiz. An seiner Uni arbeiten Spitzenforscher an medizinischen Lösungen gegen Covid-19 – und an einer App, mit der der Bund bald zurück zu einem normaleren Leben finden will.
Publiziert: 09.05.2020 um 12:49 Uhr
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Aktualisiert: 30.10.2020 um 09:35 Uhr
Professor Martin Vetterli ist Präsident der ETH Lausanne (EPFL). Er gehört zu den einflussreichsten Wissenschaftlern der Schweiz.
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Benno Tuchschmid

BLICK: Fühlen Sie sich mächtig?
Martin Vetterli: Ich glaube, der französische Chemiker Louis Pasteur (1822–1895) hat mal gesagt: «Selbst der grösste und stärkste Mann kann durch einen winzigen Krankheitserreger getötet werden.» Das lernen wir gerade aufs Neue. Mit anderen Worten: Nein, ich fühle mich nicht mächtig.

Fakt ist aber auch: Nie in der jüngeren Geschichte hatten Wissenschaftler einen derart direkten Einfluss auf die Politik.
Ja, doch die Wissenschaft darf sich nicht zu wichtig nehmen.

Wieso so bescheiden?
Wissenschaftler liefern nur die Grundlagen, entscheiden muss immer die Politik.

Einige Wissenschaftler haben damit Mühe. Sie sagen, dass die Schweiz sich im Gegensatz zu den USA zu wenig auf die Prognosen der Epidemiologen verlassen.
Wirklich? Trump hört mehr auf die Wissenschaft als der Bundesrat? (lacht) Ich denke nicht. Hören Sie: Wenn Wissenschaftler Politik machen würden, wären wir eine Technokratie – und das wollen wir in der Schweiz nicht.

Nun hat die Politik scheinbar genug vom Lockdown. Ab 11. Mai geht es zurück Richtung Normalität. Was sagen Sie dazu?
Es ist schwierig, eine Pandemie zeitlich zu planen. An der EPFL gehen wir die Ziele deshalb etappenweise an. Wir kündigen also nichts an, von dem wir nicht wissen, ob wir es einhalten können. Das ist meine Meinung als Wissenschaftler.

So glasklar ist die Wissenschaft nicht immer – im Gegenteil. Mal heisst es, von Kindern gehe keine Gefahr aus, dann hört man in Deutschland das Gegenteil.
Die Bürger müssen verstehen: Wissenschaft ist ein Prozess und kein Buch, in dem man immer sofort die Antwort findet. Seit 300 Jahren funktioniert sie nach denselben Prinzipien, alles muss überprüft, kontrolliert und gecheckt werden. Aber das braucht Zeit. Im Moment wollen alle alles sofort wissen. Doch in der Wissenschaft gibt es leider keine Abkürzungen.

Wie lange wird es gehen, bis eine Impfung auf dem Markt ist?
Wenn wir Glück haben, noch vor dem Winter, aber wahrscheinlich braucht es mindestens ein Jahr. Es gibt aber vielversprechende Projekte. Auch bei uns in Lausanne.

Martin Vetterli

Martin Vetterli (62) wuchs als Kind Deutschschweizer Eltern im Kanton Neuenburg auf. Nach einem Ingenieurstudium an der ETH Zürich und der Stanford University im Silicon Valley (USA) machte er an der École polytechnique fédérale de Lausanne (EPFL) den Doktor. Nach Professuren an den Elite-Universitäten Columbia in New York und Berkeley in Kalifornien kehrte er 2004 an die EPFL zurück, wo er 2011 Dekan der Fakultät für Informatik wurde. Von 2013 bis 2016 leitete er den Forschungsrat des Nationalfonds. Seit 2017 ist er Präsident der EPFL. Martin Vetterli ist verheiratet und hat zwei Kinder.

Martin Vetterli (62) wuchs als Kind Deutschschweizer Eltern im Kanton Neuenburg auf. Nach einem Ingenieurstudium an der ETH Zürich und der Stanford University im Silicon Valley (USA) machte er an der École polytechnique fédérale de Lausanne (EPFL) den Doktor. Nach Professuren an den Elite-Universitäten Columbia in New York und Berkeley in Kalifornien kehrte er 2004 an die EPFL zurück, wo er 2011 Dekan der Fakultät für Informatik wurde. Von 2013 bis 2016 leitete er den Forschungsrat des Nationalfonds. Seit 2017 ist er Präsident der EPFL. Martin Vetterli ist verheiratet und hat zwei Kinder.

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Welche denn?
Jedes Mal, wenn ein Virus kommt, versuchen wir von neuem einen Impfstoff zu finden. Wäre es nicht möglich, ein Medikament zu entwickeln, die sich auf alle Viren anwenden lässt? Vor zehn Jahren begann unser Professor Francesco Stellacci genau mit diesem Ziel zu forschen, und er hat erste erfolgversprechende Ansätze gefunden. Als die Pandemie begann, hat die Werner Siemens-Stiftung uns mit einem grossen Betrag unterstützt, damit wir hier schneller vorwärtsmachen können.

Das Virus attackiert nicht nur unseren Körper, es hat auch Auswirkungen auf unsere Gesellschaft. Welche?
Ein Virus greift oft Schwachstellen an – im Körper und in der Gesellschaft.

Wo liegen diese in der Gesellschaft?
Zum Beispiel in der Digitalisierung. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Die EPFL ist eine technologische Hochschule. Trotzdem diskutierten wir seit langem über die elektronische Unterschrift. Wir würden heute noch diskutieren, wenn wir nicht von einem Tag auf den anderen plötzlich keine Wahl mehr gehabt hätten. Lenin soll gesagt haben: «Es gibt Jahrzehnte, in denen nichts passiert, und dann gibt es Wochen, in denen Jahrzehnte geschehen.» Ich hoffe sehr, dass wir nach Corona nicht wieder in den alten, analogen Trott zurückfallen.

Viele Eltern von Primarschülern hoffen genau das, weil die letzten Wochen für sie eine Grenzerfahrung waren: Sie mussten arbeiten und gleichzeitig im E-Schooling ihre Kinder unterrichten.
Das verstehe ich. Vor dem Virus sind wir alle gleich. Aber vor dem Lockdown nicht. Beim E-Schooling macht es einen riesigen Unterschied, ob die Eltern eine Affinität für Technologie haben oder nicht, ob sie die Ausstattung, Zeit und genügend Platz haben. Da müssen wir sehr aufpassen: Die soziale Schere öffnet sich durch Corona.

Viele Politiker schauen derzeit mit Bewunderung nach Asien. Zu Recht?
Einerseits ja: In der Metro in Tokio tragen viele Menschen auch in normalen Zeiten eine Maske. Nicht, weil sie nicht infiziert werden wollen, sondern aus sozialer Verantwortung: Wer den Schnupfen hat, schützt seine Mitbürger vor Ansteckung. Da können wir tatsächlich etwas lernen. In Europa war die Reaktion: Gebt mir eine Maske, damit ich nicht krank werde!

Wo ist Asien kein Vorbild?
Ich warne davor, die Überwachungstechnologien, die in Asien im Kampf gegen Corona verwendet werden, als vorbildlich zu bezeichnen. Die möchte ich in der Schweiz nicht sehen, und ich glaube auch nicht, dass wir sie brauchen.

Die ETH Lausanne und die ETH Zürich bringen bald eine App raus, die helfen soll, Covid-19 unter Kontrolle zu halten. Wie funktioniert sie?
Falls Sie an Covid-19 erkranken, gibt Ihnen Ihr Arzt einen Code, den Sie eintippen. Die App warnt dann alle Menschen, die Ihnen in den letzten Wochen nahe gekommen sind und die App ebenfalls installiert haben, mit einer anonymen Message und fordert sie auf, sich in die Quarantäne zu begeben oder sich testen zu lassen.

Sie haben doch soeben die in Asien eingesetzten Überwachungsprogramme kritisiert. Wo ist da der Unterschied?
Unsere App ist freiwillig, und Sie bleiben als Individuum anonym.

Wieso sollen die Bürger diese App installieren?
Genau aus demselben Grund, wieso sie eine Maske tragen sollten: um andere zu schützen. Wer die App runterlädt, handelt solidarisch.

Letzte Woche entschied das Parlament, dass es für die App eine Gesetzesgrundlage braucht. Damit verschiebt sich die Einführung der App bis mindestens in den Juli hinein. Was halten Sie davon?
Ich denke, das könnte auch bereits in der Juni-Session des Parlaments entschieden und dann sofort umgesetzt werden.

Wäre es nicht wichtig, dass die App noch früher eingesetzt wird? Es droht ja eine zweite Welle!
Doch. Je früher, desto besser. Natürlich.

Ihre App ist nicht die einzige, die bald auf den Markt kommt. Sie haben einen Konkurrenten (PEPP-PT), der ebenfalls Wert auf Datenschutz legt.
Es geht um zwei verschiedene Ansätze: Will man, dass die persönlichen Daten der Nutzer zentral auf einem Server liegen wie bei unseren Konkurrenten, oder sollen sie dezentral auf den eigenen Smartphones gespeichert werden wie bei unserer App? Sobald Sie einen zentralen Server haben, ist das Sicherheitsrisiko eines Eindringens viel grösser. Unser System bietet den besten Datenschutz. Deshalb unterstützen auch Apple und Google unsere Lösung.

Ihre Konkurrenten kritisieren genau diese Nähe zu Google und Co. Mit Ihrer Lösung hätten diese Zugriff auf die sensiblen Bewegungs- und Kontaktdaten!
Ich habe vor kurzem mit einem Berater eines grossen europäischen Staats gesprochen. Er sagte: Auf keinen Fall können wir vor den grossen Tech-Firmen einknicken! Ich antwortete: Dann verwenden Sie doch wieder Fax-Geräte. Es ist nun einmal ein Fakt: Wir besitzen diese Geräte. Doch unsere App wurde nicht von Google oder Apple entwickelt. Das Einzige, was diese Tech-Firmen tun: Sie öffnen ihr System, damit wir grössere Präzision bei den Distanzmessungen via Bluetooth haben.

Viele europäische Länder schwenken auf Ihre App um. Sie betreiben offenbar gutes Lobbying.
Wir machen kein Lobbying, wir machen Wissenschaft. Für mich macht es keinen Unterschied, ob andere Länder unsere App nehmen oder nicht. Mich bezahlt der Schweizer Steuerzahler. Wir wollen das Beste für die Schweiz – denken aber, dass diese App auch gut für andere Länder ist. Wir strecken die Hand aus.

Wir stecken noch mittendrin in der Pandemie. Sind Sie optimistisch oder pessimistisch, was die Zukunft angeht?
Ich bin immer optimistisch, wenn es um Wissenschaft geht. Aber klar: Das Risiko einer zweiten Welle steht im Raum. Genau da brauchen wir grosse Kapazitäten für Tests, die Nachverfolgung von Infizierten und eben auch die App, um möglichst früh feststellen zu können, wenn eine zweite Welle anrollt.

Datenbasierte Entscheidungen können aber auch zu Diskriminierungen führen. Zum Beispiel von Senioren. Wie wichtig ist Ethik in der aktuellen Situation?
Sie ist extrem wichtig. Die Grundsatzfragen sind gesellschaftlicher Natur. Streben wir Herdenimmunität wie in England an oder versuchen wir, die Pandemie einzudämmen? Das ist eine ethische Frage. Was auf der englischen Insel versucht wurde, bis der Premierminister selbst erkrankte, war ein gesellschaftliches Experiment. Ich hätte in der Schweiz nicht dabei zuschauen wollen.

Wünschen Sie sich eigentlich die alte Welt zurück oder wünschen Sie sich eine neue?
Diese Frage sollten wir uns nicht einmal stellen. Es ist physikalisch unmöglich, die Zeit anzuhalten. Was wir uns fragen können: Was vermissen wir im Lockdown und was nicht? Ich habe mit meinen Doktoranden mal so eine Liste gemacht. Interessanterweise ist die zweite Liste viel länger.

Wieso?
Viele von uns waren in einem Hamsterrad gefangen und sind gerannt und gerannt. Ich hoffe für uns als Gesellschaft, dass wir nicht einfach wieder ins Hamsterrad einsteigen und weiterrennen.

So funktioniert die Corona-App

DP3T ist eine von der EPFL und der ETH Zürich initiierte App, die helfen soll, die Corona-Pandemie in den Griff zu bekommen. So funktioniert die App: Erkrankt eine Person an Covid-19, erhält sie von ihrem Arzt einen Code, den sie eintippt. In der Folge werden alle Anwender der App gewarnt, die sich in den letzten zwei Wochen in der Nähe der infizierten Person aufgehalten haben – und aufgefordert, sich in Quarantäne zu begeben oder einen Arzt aufzusuchen. Im Zentrum des Projekts steht der Datenschutz: Die individuellen Bewegungsdaten werden lokal auf dem Smartphone gespeichert – und sollen so vor Missbrauch geschützt sein.

DP3T ist eine von der EPFL und der ETH Zürich initiierte App, die helfen soll, die Corona-Pandemie in den Griff zu bekommen. So funktioniert die App: Erkrankt eine Person an Covid-19, erhält sie von ihrem Arzt einen Code, den sie eintippt. In der Folge werden alle Anwender der App gewarnt, die sich in den letzten zwei Wochen in der Nähe der infizierten Person aufgehalten haben – und aufgefordert, sich in Quarantäne zu begeben oder einen Arzt aufzusuchen. Im Zentrum des Projekts steht der Datenschutz: Die individuellen Bewegungsdaten werden lokal auf dem Smartphone gespeichert – und sollen so vor Missbrauch geschützt sein.

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