Estlands Premierministerin Kaja Kallas bietet Putin die Stirn
«Wir dürfen kein Zeichen des Zögerns zeigen»

Russland stellt die Welt vor enorme Herausforderungen. Die estnische Premierministerin Kaja Kallas sagt im exklusiven Interview, warum es wichtig ist, die Ukraine nicht im Stich zu lassen.
Publiziert: 07.08.2022 um 00:42 Uhr
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Aktualisiert: 07.08.2022 um 10:47 Uhr
Interview: Gieri Cavelty und Valentin Rubin

So klein Estland auch sein mag, die estnische Ministerpräsidentin Kaja Kallas ist eine der wichtigsten Gegenspielerinnen von Wladimir Putin. Die liberale Politikerin tritt für eine kompromisslose Unterstützung der Ukraine im Krieg gegen Russland ein. Für ihr Engagement erhielt sie gestern in Ascona TI den «Europapreis für politische Kultur» der Hans Ringier Stiftung. Vor der Preisübergabe am Dîner républicain von Frank A. Meyer traf sie SonntagsBlick zum Interview.

SonntagsBlick: Frau Kallas, Sie erhalten in Ascona den «Europapreis für politische Kultur». Was kann Europa von Ihnen und der politischen Kultur Estlands lernen?
Kaja Kallas: Natürlich bedeutet die Auszeichnung eine grosse Ehre für mich und mein Land. Allerdings ist es doch eher so, dass wir von den alten Demokratien in Europa lernen können. Estland ist seit gut 30 Jahren wieder unabhängig, bis da gab es bei uns keinerlei politische Kultur. Wenn Sie für die Freiheit kämpfen, dann haben Sie ein gemeinsames Ziel – ist die Freiheit erreicht, gibt es plötzlich ganz verschiedene Ansichten, in welche Richtung sich ein Land entwickeln soll. Es wird diskutiert, es werden Kompromisse geschlossen und die Leuten merken: Demokratie kann auch unbequem sein. Da können wir von den alten Demokratien noch viel lernen.

Estlands Premierministerin Kaja Kallas (45) hat sich bereits zu Beginn des Ukraine-Kriegs für eine harte Linie gegen Russland starkgemacht. In Ascona erhielt sie gestern für ihr Engagement den «Europapreis für politische Kultur».
Foto: Antje Berghäuser
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Ihre Mitbürger sehnen sich aber doch nicht nach der Sowjetzeit zurück?
Nein. Alle wissen, dass es damals weder Freiheit noch sonst etwas gab. Wenn ich mich allein an die langen Schlangen vor den Lebensmittelläden erinnere! Estland startete bei weniger als null: Wir hatten nichts, es gab keinerlei Privatbesitz. In der Sowjetzeit war es in Ordnung, den Staat zu bestehlen – er war ja eine fremde Macht, die man bekämpfte. Wenn das Land aber dein eigenes ist, braucht es eine vollkommen neue Mentalität. Diesen Wandel mussten wir erst einmal hinbekommen. Wir haben einen langen Weg hinter uns. Dabei haben wir viel erreicht, darauf bin ich sehr stolz.

Heute erhalten Sie in Ascona einen Preis. Doch fühlen sich die osteuropäischen Staaten von Westeuropa zuweilen nicht im Stich gelassen? Deutschland etwa ist nach wie vor sehr zögerlich, wenn es um die Lieferung von Waffen an die Ukraine geht.
Die westlichen Staaten haben sich stark bewegt. Deutschland etwa steht heute in Bezug auf Russland an einem ganz anderen Punkt als noch vor ein paar Monaten. Für uns ist die Situation, wenn man das so sagen kann, einfacher: Es gibt nur Schwarz und Weiss. Wir sehen die Gefahr unmittelbar an unserer Grenze – und wir haben die Gefahr am eigenen Leib erlebt. Jede estnische Familie hat ihre eigene Geschichte mit Deportation, Massentötung, Folter. Meine eigene Familie wurde nach Sibirien deportiert.

Doch Tatsache bleibt: Der Westen könnte mehr tun.
Natürlich ist der Krieg eine Gefahr für ganz Europa, und die Ukraine braucht mehr Unterstützung gerade der grösseren Länder in Europa. Nicht nur von Deutschland. Ich mache mir grosse Sorgen, wenn jetzt der Ruf ertönt, die Waffenlieferungen sollten eingestellt werden. Russland hat in der Ukraine ein Territorium besetzt, das dreimal so gross ist wie die Schweiz.

Die Schweiz liefert gar keine Waffen und begründet dieses Abseitsstehen mit ihrer Neutralität. Kann man in der heutigen Zeit überhaupt neutral sein?
Der amerikanische Präsident Theodore Roosevelt hat sinngemäss gesagt: Neutral zu sein zwischen richtig und falsch bedeutet, dem Falschen zu dienen. Wird auf dem Schulhof jemand gequält, sind diejenigen, die nur zuschauen und nichts unternehmen, für das Leid ebenso verantwortlich. Unser Land versuchte in den 40er-Jahren neutral zu sein – dann wurden wir besetzt, weil wir keine Freunde und Alliierten hatten. Als wir erneut unsere Unabhängigkeit erlangten, war für uns klar, wir werden nie mehr allein sein. Was ich historisch übrigens interessant finde: Die Schweiz war einst ja eine Militärallianz der Kantone, um fremde Mächte fernzuhalten.

Persönlich

Kaja Kallas (45) ist seit Januar 2021 Premierministerin Estlands. Von 2014 bis 2018 sass sie im Europäischen Parlament in Strassburg. Als Politikerin der liberalen Estnischen Reformpartei verfolgt Kallas einen klaren prowestlichen Kurs. Das hat auch mit ihrer Familiengeschichte zu tun: Im Jahr 1949 verschleppten die Sowjets ihre Grosseltern nach Sibirien. Sie sagt deshalb auch: «Der imperiale Traum Russlands ist nie gestorben.»

Kaja Kallas (45) ist seit Januar 2021 Premierministerin Estlands. Von 2014 bis 2018 sass sie im Europäischen Parlament in Strassburg. Als Politikerin der liberalen Estnischen Reformpartei verfolgt Kallas einen klaren prowestlichen Kurs. Das hat auch mit ihrer Familiengeschichte zu tun: Im Jahr 1949 verschleppten die Sowjets ihre Grosseltern nach Sibirien. Sie sagt deshalb auch: «Der imperiale Traum Russlands ist nie gestorben.»

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Hier in Ascona treffen Sie Bundespräsident Ignazio Cassis. Was erwarten Sie von ihm?
Wenn ich Nachrichten über die Schweiz lese, sehe ich, dass um die eigene Position gerungen wird – manche Leute, die sagen, das Land solle unbeteiligt von der Seitenlinie aus zuschauen. Aber die Schweiz hat sehr viel Macht! Dass sich die Schweiz den Sanktionen angeschlossen hat, ist sehr wichtig. Sie muss sich darum allen Sanktionen anschliessen. Mit Ignazio Cassis spreche ich über die Umsetzung der bisherigen sowie über weitere Sanktionen.

Sie haben als eine der Ersten für einen EU-Beitritt der Ukraine geworben. Wann wird es zu einem solchen Beitritt kommen?
Die Frage nach dem Zeitpunkt ist schwierig zu beantworten. Die EU verlangt von der Ukraine Reformen, Rechtsstaatlichkeit, Korruptionsbekämpfung. Als Estland der EU beitreten wollte, hatten wir dieselben Aufgaben. Es waren schwierige Reformen, auch für die Öffentlichkeit. Aber es hat sich gelohnt, unser Lebensstandard ist stark gestiegen. Wir sind stärker geworden, haben Investoren angezogen und Vertrauen gewonnen.

Hinsichtlich der Ukraine sprachen Sie von einem «Whatever-it-takes»-Moment. Realistischerweise: Wie viel braucht es am Ende, damit die Ukraine diesen Krieg überlebt?
Die Ukraine muss immens viel hergeben, gerade mit Blick auf die menschlichen Opfer. Die Inflationsraten in Europa, auch wenn sie sehr hoch sind, sind da vergleichsweise ein tiefer Preis. Es liegt an uns, den Ukrainern zu helfen, damit der Krieg nicht ewig andauert. Genauso wichtig: Russland weiter isolieren, Kriegsverbrechen verfolgen, sowie ein Tribunal für das Verbrechen der Aggression einrichten. Denn Putin pokert auf die Straflosigkeit, und das dürfen wir nicht zulassen. Sonst wird er immer weitermachen. Vor allem, weil wir nicht beobachten, dass sich Russland zurückzieht. Wir dürfen keine Zeichen des Zögerns zeigen.

Sie haben die Inflation erwähnt: Estland leidet mit 22,7 Prozent unter der höchsten Inflationsrate in der Eurozone. Wie lange kann das gut gehen?
Eine solch extrem hohe Inflation stellt uns vor enorme Schwierigkeiten. Wir helfen den Menschen, wo es geht, damit sie die hohen Energiepreise bezahlen können. Was aber wichtig ist: Die Menschen erkennen, dass der russische Angriffskrieg die Inflation verursacht hat.

Sorgen Sie sich wegen sozialer Unruhen?
Natürlich. Vor allem, weil wir auch im Informationskrieg sind. Russland versucht, unsere Länder zu destabilisieren und die Gaspreise in die Höhe zu treiben, was die Menschen am eigenen Leib spüren. Selbst wenn der Krieg weit weg ist, leiden die Menschen, weil sie die Rechnungen nicht mehr bezahlen können.

Fürchten Sie, dass die Energieabhängigkeit Europa weiter spalten wird?
Wir sollten die Situation als Chance sehen. Wir haben seit längerem Probleme mit der Energie – denken Sie an die Klimaerwärmung. Jetzt ist der Moment da, um die Abhängigkeit von Gas und Öl endlich zu reduzieren. Aber natürlich wird der Winter schwierig werden, da darf man sich keinen Illusionen hingeben.

Sie wurden als Anti-Putin bezeichnet. Sind Sie das?
Ich bin gegen Kriegsverbrecher, gegen Aggression, gegen Krieg. Putin repräsentiert all das. Aber es geht nicht um die Person, sondern darum, was er tut. Er versteckt seine imperialen Träume nicht einmal. Genauso wenig die Kriegsverbrechen seiner Soldaten. Wir sollten nicht vergessen, dass auch das Aggressionsverbrechen geahndet werden kann. Diesbezüglich müssen wir klare Signale aussenden. Europa hat sich politisch als sehr stark erwiesen. Jetzt müssen juristische Schritte folgen.

Was muss mit Putin passieren? Wie kann sein Regime enden?
Wir können den Umfragen aus Russland natürlich nicht blind trauen, aber wir sehen, dass der Support für den Krieg noch immer gross ist. Seit Kriegsbeginn hat er gar zugenommen. Die russische Gesellschaft sucht immer nach einer starken Führung – Putin gibt ihr das. Aber ich würde mir nicht so viele Gedanken zu Putin machen. Was zählt, ist die Ukraine und das Leben der Ukrainerinnen und Ukrainer.

Kann es mit Russland überhaupt je ein friedliches Zusammenleben geben?
Es gab in der Vergangenheit solche Momente, etwa nach dem Zusammenbruch der UdSSR. Das war für uns das Zeitfenster, um der EU und der Nato beizutreten. Friedliche Koexistenz ist möglich, aber nur unter bestimmten Bedingungen. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die Verbrechen der Nationalsozialisten weltweit verurteilt – bei den Verbrechen der Sowjetunion ist so etwas nie passiert. Es braucht weltweit eine Verurteilung der kommunistischen Verbrechen. Ebenso, wie die aktuellen russischen Verbrechen in der Ukraine gesühnt werden müssen.

Machen Sie sich Sorgen, dass Putins nächstes Ziel die baltischen Staaten sein könnten?
Die richtige Frage wäre: Ist als nächstes die Nato dran? Wir sind Teil der Allianz, uns anzugreifen, hiesse auch die Nato anzugreifen, die USA, Grossbritannien, Deutschland, Frankreich. Ist Russland dazu bereit? Wir sehen keine militärische Bedrohung an unseren Grenzen, und beim Nato-Gipfel in Madrid im Juni haben wir wichtige Entscheidungen getroffen und unsere Verteidigung gestärkt. Wir tun alles, damit Putin nicht einmal in unsere Richtung blickt.

Die Frage der Nuklearwaffen bleibt aber im Raum. Fürchten Sie, dass Putin solche einsetzen wird?
Putin und der Kreml waren immer sehr gut darin, mit unseren Ängsten zu spielen. Genau zu wissen, wovor wir uns fürchten. Sie haben Angst, dass wir über die Grenze kommen? Okay, dann senden wir entsprechende Signale. Sie haben Angst vor Atomwaffen? Gut, dann spielen wir mit dieser Furcht. Ich kann nicht in Putins Kopf schauen. Aber wenn man sieht, wie er auf die Nato-Beitrittsgesuche Finnlands und Schwedens reagiert hat, dann wird klar: Es waren leere Drohungen. Putin hat nichts unternommen. Ein Diktator versteht nur Stärke. Er spielt mit unserer Angst. Und wenn wir Angst zeigen, heisst das für Putin nur, wir sind schwach.

Das ist die Grenze zwischen Estland und Russland
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Strenge Regeln:Das ist die Grenze zwischen Estland und Russland

In Estland leben 300'000 Menschen mit russischen Wurzeln – bei 1,3 Millionen Einwohnern. Sorgen Sie sich um den nationalen Zusammenhalt?
1922 waren drei Prozent der Esten russischstämmig. Weil unter der sowjetischen Besatzung unsere Leute, meine Familie inklusive, deportiert wurden, und durch Russen ersetzt wurden, waren zum Ende der Sowjetunion mehr als 30 Prozent aller Esten russischsprachig. Wichtig ist vor allem: Die Mehrzahl dieser Menschen sind estnische Bürger, betrachten Estland als ihre Heimat. Aber ja, es ist so: Russland will die Länder in Osteuropa entzweien und nutzt dafür die russischsprachige Bevölkerung. Natürlich bin ich in Sorge, ich sage aber auch: Unsere Vergangenheit mag sich unterscheiden, aber wir haben eine gemeinsame Zukunft.

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