Ein wegen Korruption verurteilter Politiker schafft die Sensation
Darum haben die Genfer Pierre Maudet gewählt

In der Deutschschweiz kann man sich das gar nicht vorstellen: Ein wegen Korruption verurteilter Politiker wird wieder in die Regierung gewählt. Im Fall von Pierre Maudet gibt es dafür gute Gründe, schreibt Michel Jeanneret, Chefredaktor von Blick Romandie.
Publiziert: 30.04.2023 um 18:51 Uhr
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Aktualisiert: 01.05.2023 um 18:13 Uhr
Michel Jeanneret

«Befremdlich» findet es die NZZ, dass Pierre Maudet (45) am Sonntag erneut in die Genfer Regierung gewählt wurde. Ein Mann, der «vor wenigen Monaten letztinstanzlich wegen eines Korruptionsdelikts verurteilt worden ist. Der sämtliche Instanzen belogen hat. Der Finanzflüsse vertuscht hat und für ein Steuervergehen bestraft worden ist. Der für Indiskretionen und die grösste Regierungskrise Genfs seit Jahrzehnten verantwortlich ist», heisst es weiter.

Ja, auf der anderen Seite des Röstigrabens mag das befremdlich sein. Doch es gibt gute Gründe dafür.

Genfer sind sich vieles gewohnt

Politiker, die über Affären stolpern, sind in Genf nichts Neues. Ein Politiker, der privaten Freunden einen Posten zuschanzt? Passiert immer wieder. Staatsräte, die im Ausgang handgreiflich werden? Auch schon gesehen. Regierungsmitglieder, die dank Beziehungen zu einer spottbilligen Wohnung kommen – im Gegensatz zu vielen Genferinnen und Genfern, die Mühe haben, ihre Miete zu bezahlen. Alles schon gesehen.

Pierre Maudet, wiedergewählter Staatsrat, lässt sich in Genf beglückwünschen.
Foto: keystone-sda.ch
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Die Genferinnen und Genfer haben – auch, weil ihnen nichts anderes übrig bleibt – eine grosse Toleranz gegenüber fehlbaren Politikern entwickelt. Davon konnte auch Maudet profitieren. Übel nahm man ihm in der Rhonestadt auch nicht, dass er sich nach Abu Dhabi einladen liess. Sondern, dass er darüber jahrelang gelogen hat. Doch dafür hat sich der alte und neue Staatsrat entschuldigt – und die Bevölkerung hat ihm vergeben.

Genf hat genug

Diese nonchalante Haltung ist die Frucht einer grossen Desillusionierung. Die aktuelle Regierung hat – wie so viele vor ihr – nichts auf die Reihe gebracht. Genf steckt fest und die Probleme (Wohnungsnot, Verkehr) wachsen. Der Kanton sehnt sich geradezu nach einem Leader. Pierre Maudet hat sich schon in seiner Zeit in der Regierung als Macher gezeigt – als jemand, der Probleme konkret und oft auch unkonventionell löst.

Für die Genferinnen und Genfer heisst das: Da ist jemand, der anführt und anpackt. Auch im Wahlkampf war er der einzige, der konkrete Lösungen für ganz reale Probleme vorgeschlagen hat – sei es mit einer kantonalen Einheitskasse zur Dämpfung der Krankenkassenprämien oder in der Energiepolitik.

Maudet, die Kampagnen-Maschine

Niemand in Genf hat so einen engagierten und neuen Wahlkampf geführt wie Maudet und seine Bewegung Liberté et Justice Sociale. Nah bei den Leuten, modern, anders. Er hat sich weder auf die linke noch auf die bürgerliche Seite geschlagen, sondern vielmehr betont, dass diese Kategorien Genf nicht weiterbringen. Das empfinden auch viele Bürgerinnen und Bürger so. Maudet konnte damit viele Leute abholen, die sonst nicht wählen gehen. Er hat enorm mobilisiert.

Und nun? Maudet ist gewählt und muss sich mit jenen arrangieren, die ihn aus dem Amt geworfen haben. Muss Vertrauen aufbauen, sich integrieren, gute Arbeit leisten. Ob es gelingt, hängt auch davon ab, ob die anderen Regierungsmitglieder bereit sind. Das Votum der Bevölkerung: Die Abu-Dhabi-Affäre ist vorbei, Maudet vom Volk gewählt. Das sollten seinen Kollegen akzeptieren. Genf hätte es verdient.

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