Ein Tibeter will zurück
Aus der Schweiz ausreisen ist schwierig

Einwanderer sind in den Medien ein grosses Thema. Die mehr als 70’000 Ausländer, die jedes Jahr die Schweiz verlassen, nicht.
Publiziert: 02.11.2023 um 18:57 Uhr
|
Aktualisiert: 16.01.2024 um 14:22 Uhr
René Ammann
Beobachter

«Was kann machen ich?», fragt der Tibeter neben mir. Wir stehen am Schalter des Zürcher Stadthauses. Zum vierten Mal innerhalb von drei Wochen.

Warten auf der Holzbank, bis unsere Nummer aufblinkt. Was nie länger als 20 Minuten dauert (danke). In dieser Zeit werfen Brautpaare silberfarbene Fötzel in die Luft, stellen Leute ihren halb vollen Papierbecher auf den Tisch und gehen fort, essen dreieckige Sandwiches und lassen die Plastikpackung auf der Bank, schlürfen ihre Suppe mit Knöpfen im Ohr, gehen aufs WC und dann bye-bye.

Der Beamte fragt den Tibeter: «Sind Sie ledig?» – «Ja.» Stempel aufs Formular. «Macht 20 Franken.» Genau dieser Stempel hatte gefehlt. Auf dem Formular der Pensionskasse. Ich kann es nicht fassen.

Wer aus der Schweiz ausreisen will, muss sich teilweise auf hohe Hürden einstellen.
Foto: keystone-sda.ch
1/5
Artikel aus dem «Beobachter»

Das ist ein Beitrag aus dem «Beobachter». Das Magazin berichtet ohne Scheuklappen – und hilft Ihnen, Zeit, Geld und Nerven zu sparen.

Probieren Sie die Mobile-App aus!

Das ist ein Beitrag aus dem «Beobachter». Das Magazin berichtet ohne Scheuklappen – und hilft Ihnen, Zeit, Geld und Nerven zu sparen.

Probieren Sie die Mobile-App aus!

Auf allen amtlichen Formularen steht, der Tibeter sei ledig. Aber die Pensionskasse Gastro-Social will den Stempel auf ihrem Formular. «Es tut mir leid», sage ich, «ich hätte das genauer lesen sollen.»

Lauter Zungenbrecher – auch für Einheimische

Der Tibeter hatte deswegen ein weiteres Mal nach Zürich fΩahren und mit mir ins Stadthaus gehen müssen. Er spricht leidlich Deutsch. Aber Wörter wie «Schriftenempfangsschein» oder «Personenstandsausweis» kommen nicht einmal Eingeborenen wie mir flüssig über die Lippen.

Beim ersten Mal waren wir zu früh gewesen. «Sie können sich frühestens 30 Tage vor dem Tag Ihrer Abreise abmelden», sagte die Beamtin. Drei Tage darauf begann der Stafettenlauf durch die Institutionen, und ich fragte immer wieder: «Hast du dir das gut überlegt?» – «Ja. Ich bin allein hier, und ich habe keine Arbeit mehr.» – «Hast du dir das wirklich gut überlegt, was das heisst, wenn du dich definitiv abmeldest?» – «Ja.»

Jahrelang hat er in Restaurants gearbeitet. Kalte Küche, Abwaschen, Putzen. Das gab ihm ein Einkommen zum Überleben. Oft war der Tibeter auf Abruf angestellt. Während Covid rief der Chef nur an, um ihm zu sagen, er brauche ihn nicht. Und im Sommer müsse er nicht zur Arbeit erscheinen, das Restaurant habe keinen Garten. Der Tibeter wurde ein Fall fürs RAV.

In der bürokratischen Zwickmühle

Beim zweiten Mal im Stadthaus Zürich fehlen Flugbestätigung und Visum. Es braucht Zeit, bis ein Konsulat oder eine Botschaft ein Visum erteilt. Eins geht ohne das andere nicht. Das interessiert niemanden. Ziehen Sie eine Nummer. Warten Sie. Vergebens? Kommen Sie wieder.

Ich bin keine grosse Hilfe, denke ich. Ich mache diese Stafette zum ersten und zum hoffentlich letzten Mal.

Neun von neun Millionen – diese Ausländer bewegen die Schweiz

Beim dritten Mal klappt es. «Macht 20 Franken», sagt die Beamtin am Schalter. Die Abmeldung aus der Schweiz heisst «Attest». «Wollen Sie eine Quittung?» Nein. Wofür?

Erniedrigungen und kiloweise Papiere

«Die Frau hat mich nicht ein Mal angesehen», sagt der Tibeter. «Sie sprach bloss mit dir.» Ich versuche ihn zu beruhigen. «Sie sprach schriftdeutsch. Sie dachte vermutlich, du verstehst sie nicht.»

Ein Jahrzehnt in der Schweiz. Was bleibt? Was blieb? Deutschkenntnisse A1, etwa fünf Kilo Akten. Am Ende ein einziges Blatt Papier für 20 Franken. Der Tibeter drückt eine Träne weg. Eine letzte – vermutlich unabsichtliche – Abweisung, eine Erniedrigung.

Es gibt den Ausdruck «fremdschämen». In den Wochen mit meinem Freund, dem Tibeter, erfahre ich ein anderes Gefühl. Fremdtrauern. «Ich kannte dieses Gefühl nicht», sage ich einer Freundin. «Gewöhn es dir wieder ab», sagt sie. «Ich kann nicht.»

Möglich ist nur eine «nichtkorrekte Ausreise»

Als wir nach der definitiven Abmeldung das Limmatquai entlanggehen, schweigt er. Ich lege meinen Arm auf seine Schultern. «Wie geht es dir? Bist du erleichtert?» – «Mein Herz weiss nicht, was es fühlen soll. Gut oder nicht gut», sagt er.

In den Cafés am Limmatquai sitzen fröhliche Inder, Koreanerinnen, Emirati. Und Chinesen. Auf dem 20-Franken-Attest ist der Tibeter Bürger der Volksrepublik China. Deswegen gibt ihm die Schweiz keine Rückkehrhilfe. «Das sieht nicht rosig aus», sagt die hilfsbereite Beamtin des Kantons Zürich. «Es handelt sich um eine nichtkorrekte Ausreise.»

In welchen Staat der Tibeter auch geht, er reist «nichtkorrekt» aus, er reist in einen «Drittstaat». Nach Tibet zurück kann er nicht. China hat sich Tibet 1950 «friedlich» einverleibt. Aus rechtlicher Sicht ist klar: Die Schweiz kann und darf keine «nichtkorrekte» Ausreise finanzieren.

Die Folge: Der anerkannte Flüchtling aus Tibet muss den Flug selber bezahlen. Und zwar hin und zurück. Ohne Rückflug bekommt er als Flüchtling nirgendwo ein Visum. Damit der Tibeter den Flug bezahlen kann, muss er sich das Geld borgen. Ohne bezahlten Flug und Unterkunft kein Visum, ohne Visum kein «Attest», ohne «Attest» kein Geld von der Pensionskasse oder von der AHV.

Überall ein Sans-Papiers

Auch gibt es für Tibeter keine «Rückreiseprämie» oder gar einen finanziellen Anschub für den Aufbau einer Existenz im Herkunftsland. Wohin soll er auch gehen? Der Tibeter wird in jedem Land ausserhalb der Schweiz ein Sans-Papiers sein, ein Papierloser ohne Rechte.

«Wie lange ist mein Pass gültig?» Der Tibeter zeigt mir das Dokument. Es sieht aus wie ein Schweizer Pass. Der Umschlag ist blau, nicht rot. Es ist ein «Reiseausweis» für «Refugees», Flüchtlinge. Ich hatte noch nie so einen Ausweis gesehen. «Ich weiss es nicht.» Ich frage bei den Amtsstellen nach. Alle Beamten sind höflich und hilfsbereit. Aber sie wissen es auch nicht.

Er fragt: «Wo ist der Staubsauger?» Dann laufen die Tränen

Ich versuchte den Tibeter abzulenken auf unserem Weg das Limmatquai entlang. Und mich ebenso. «Hast du Hunger?» – «Ein bisschen.» – «Was magst du essen?» – «Was du zu Hause hast.» – «Sollen wir auf dem Weg eine Pizza kaufen?» – «Nein. Wir essen, was es zu Hause hat.» – «Ich habe Ravioli mit Ricotta und Spinat und Parmesan.» – «Gut.»

Zu Hause bügelt er mit der Hand den Teppich glatt. Den hatte er vor ein paar Tagen auf meinem Sofa ausgebreitet. Der Teppich hatte sich verschoben, als ich mich aufs Sofa setzte. «Wo ist der Staubsauger?», fragt der Tibeter. «Du willst doch nicht meine Wohnung putzen?» – «Doch. Du kochst ja für mich. Dann kann ich auch etwas für dich tun. Wo sind Eimer und Lumpen?»

Er isst die Ravioli und trinkt eine kleine Cola. Dann laufen ihm die Augen über. Tränen tropfen ihm vom Kinn. Ich stehe auf und nehme ihn in den Arm. «Ich bin nicht glücklich», sagt er. Ich drücke ihn fester an mich. «Oje. Es tut mir leid. Es tut mir sehr leid. Ich hoffe, das kommt gut für dich.»

20 schmale Briefkästen für 20 kleine Leben

Nach längerer Pause eine Runde Bürokratie. Die Krankenkasse abmelden. Das Studio ist gekündigt. Höchstens 15 Quadratmeter. Ein Bett von 90 Zentimetern, ein kleiner Tisch, zwei Stühle, ein Gestell mit einer Schattenpflanze drauf und einem einzigen, vergilbten Buch. «See It & Say It in German».

«Nimm es mit. Ich brauche es nicht mehr», sagt er. Ich lese darin Sätze wie: «Gibt es Blumen im Mai? Möchten Sie zum Ballett gehen? Ich habe ein Motorboot gekauft.» Oder: «Ich habe gesagt. Ich habe gearbeitet. Ich habe gemietet. Ich habe geweint.»

Immerhin findet sich im Studio mit Dusche und WC auf der schmalen Küchenzeile ein Plätzchen für den Reiskocher. Einen Balkon gibt es nicht, aber zwei Fenster ohne Aussicht. Früher ist das Haus ein Bordell gewesen. Das sage ich ihm nicht.

Als wir die Tür seines Studios öffnen, um zu gehen, treffen wir im Flur auf einen Mann mit dickem, kleinem Hund. Der Hund wedelt sich an uns vorbei ins Zimmer des Tibeters. «Komm da wieder heraus!», ruft der Mann. Sein Nachbar.

Auch er wohnt allein in diesem Haus mit seinen 20 schmalen Briefkästen für 20 kleine Leben. Im Eingang steht: «Wer mit Drogen dealt oder sich prostituiert in diesem Haus, dem wird gekündigt.» Und: «Die Haustür muss IMMER! geschlossen bleiben.»

Wohin mit dem Geld?

Eine weitere Runde Bürokratie. Die Auflösung des Mietzinskautionskontos. Noch so ein Wort zum Kauen. «Diese nicht gekommen», sagt der Tibeter. Er meint die zwei Monatsmieten, die er hatte hinterlegen müssen für sein Studio. Die Bank UBS zahlt ihm nach all den Jahren einen Zins von fünf Rappen.

Die Pensionskasse Gastro-Social schreibt, das Geld werde nicht in bar ausgezahlt. Obwohl das so auf den Formularen steht. Meine Mails laufen ins Leere. «Wann kommt das Geld? Ich weiss nicht, wie lange es mein Konto gibt», sagt der Tibeter. Ohne Adresse in der Schweiz löst die Postfinance sein Konto auf.

Und wann kommt die AHV? «Die wird erst in ein paar Monaten ausgezahlt, steht hier. Gilt deine E-Mail weiterhin?» – «Ja.»

Die Gebühren fressen einen Fünftel weg

Das Guthaben bei der AHV ist das grösste Vermögen, das sich der Tibeter in den Jahren in der Schweiz erarbeiten konnte. Damit er im Ausland auf sein Geld zugreifen kann, muss er sich ein neues Konto zulegen. Er eröffnet ein Konto bei einer Onlinebank.

Jedes Mal, wenn er Geld abhebt, zahlt er eine hohe Gebühr und verliert Geld, wegen des schlechteren Wechselkurses. Bei jedem Bezug sind das etwa 20 Prozent, rechne ich nach. Der Tibeter hat keine andere Wahl. Als Sans-Papiers kann er in keinem neuen Land an einem Bankschalter ein Konto eröffnen.

«Stimmt die Adresse noch?», fragt die AHV. Adresse? Welche Adresse? Der Tibeter musste eine billige Herberge buchen, damit er das Visum als Tourist bekommt. In ein paar Monaten will ihm die AHV sein Geld überweisen. Er sagt: «Was die Schweiz will, will sie sofort. Muss die Schweiz geben, muss ich lange warten. Sehr lange.»

Zeit, zu gehen

Sein Konto ist leer. «Ich ertrage es nicht, dass du ohne Geld bist. Ich will das nicht», sage ich. «Danke», sagt er und steckt die Scheine ein.

Es ist Zeit, zu gehen. Wir nehmen einander in die Arme. «Ich wünsche dir alles erdenklich Gute», sage ich.

«Kommst du mich besuchen?», fragt er. «Ja. Versprochen. Soll ich dich morgen zum Flughafen begleiten?» – «Nein.»

Als der Tibeter weg ist, lege ich mich aufs Sofa. Auf seinen Teppich, den er daraufgelegt und mit der Hand flachgebügelt hat.

Und wünsche mir, der Teppich könnte fliegen.

Fehler gefunden? Jetzt melden
Was sagst du dazu?
Liebe Leserin, Lieber Leser
Der Kommentarbereich von Blick+-Artikeln ist unseren Nutzern mit Abo vorbehalten. Melde dich bitte an, falls du ein Abo hast. Noch kein Blick+-Abo? Finde unsere Angebote hier:
Hast du bereits ein Abo?