Ein Jahr nach der Frauenwahl
Die grosse Ernüchterung

2019 wählte die Schweiz ein weiblicheres Parlament. Doch an der Politik habe dies nichts geändert, kritisiert SP-Nationalrätin Tamara Funiciello.
Publiziert: 07.12.2020 um 07:17 Uhr
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Aktualisiert: 28.04.2021 um 17:00 Uhr
Simon Marti

2019 war das Jahr des Frauenstreiks (im Juni) und der Parlamentswahlen (im Oktober). Tatsächlich stieg der Anteil Politikerinnen im Nationalrat von einem Drittel auf 42 Prozent.

Zwischenbilanz nach einem Jahr: Wie viel hat sich für die Frauen in der Schweiz verbessert? Tamara Funiciello (30, BE), eine der Promotorinnen des Frauenstreiks und seit einem Jahr für die SP im Nationalrat, ist ernüchtert. «Erst jubeln alle über den Streik und hissen die violetten Fahnen», sagt sie. «Aber was passiert im politischen Alltag? Nichts.»

Gesetzgebung bleibt männlich geprägt

Unter dem Titel «Gleichstellungspolitische Offensive» hatte Funiciellos Partei einen Sechs-Punkte-Plan verabschiedet. Die Bundeshausfraktion hat das Vorstosspaket denn auch eingereicht. Doch ein Vorschlag nach dem anderen erlitt Schiffbruch – oder droht in Kürze zu scheitern.

SP-Nationalrätin Tamara Funiciello: «Aber was passiert im politischen Alltag? Nichts.»
Foto: Keystone
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So verlangte ein Vorstoss die genauere Überprüfung der Lohngleichheit von Mann und Frau. Betriebe mit mehr als 50 Mitarbeitenden hätten dazu verpflichtet werden sollen, Lohnanalysen vorzulegen. Die parlamentarische Initiative fiel durch. Noch klarer scheiterte die Forderung nach Bussen für jene Unternehmen, welche die Lohngleichheit verletzen.

Ein ähnliches Bild zeigt sich im Kampf gegen sexuelle Belästigung. Zwar unterstützt eine Mehrheit der Kommission für Wissenschaft, Bildung und Kultur einen Vorstoss, wonach Firmen eine externe Beratungsstelle für Opfer sexueller Belästigung am Arbeitsplatz benennen müssen. Von höherer Opfer-Entschädigung will die Parlamentsmehrheit aber nichts wissen.
Die Gesetzgebung bleibe männlich geprägt, kritisiert Funiciello. «Die Frau gilt immer noch als das ‹andere›, die Abweichung von der Norm.» Das habe sich auch diese Woche gezeigt, als der Ständerat zwar grünes Licht für die «Ehe für alle» gab, zugleich aber die Samenspende für lesbische Paare einschränkte. Funiciello bleibt trotzdem zuversichtlich. «Was die bürgerlichen Herren nicht begreifen: Die Zeit arbeitet für uns.» Denn während sich der Ständerat windet, hat die Stadtberner Bevölkerung vor einer Woche ein neues Parlament gewählt. Ergebnis: Die Berner Legislative ist nun zu beinahe 70 Prozent weiblich.

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