Dringend Lehrer gesucht
Ukrainische Kinder bringen Gemeinden ans Limit

Die Schulpflicht von geflüchteten Kindern aus der Ukraine ist eine organisatorische Herausforderung. Und verschärft den Lehrermangel. Die höchste Lehrerin der Schweiz fordert nun Hilfe vom Bund.
Publiziert: 30.04.2022 um 00:27 Uhr
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Aktualisiert: 01.05.2022 um 15:31 Uhr
Sophie Reinhardt

Rund 50 Waisenkinder aus der Ukraine sind vor wenigen Tagen im Luxusferienort Gstaad BE angekommen. Ihre Einschulung bringt die kleine Gemeinde nun ziemlich in Bedrängnis. «Ich weiss heute noch nicht, wer die Kinder nach den Frühlingsferien unterrichten wird», sagt Roman Gimmel (48), der Leiter der zuständigen Gemeindeverwaltung Saanen. Er braucht dringend Lehrerinnen oder Lehrer, die am 9. Mai parat stehen, wenn die Schule wieder beginnt.

Gimmel rechnet damit, drei Willkommensklassen für die Neuankömmlinge eröffnen zu müssen. Viel Zeit zum Vorbereiten hatte die Oberländer Gemeinde nicht. Erst zwei Tage vor Ankunft der Gruppe wurde sie darüber informiert, dass eine Privatperson den Kindern und ihren Betreuern Unterschlupf bietet. Saanen hatte deshalb eine Taskforce gebildet.

Ukraine-Krieg verschärft Lehrermangel

Wegen des Lehrermangels im Kanton Bern – aktuell sind über 500 Stellen ausgeschrieben – sei es sehr herausfordernd, Lehrpersonen zu finden, so Gimmel. Schon länger müssen die Schulen auf Quereinsteiger ohne pädagogische Ausbildung setzen, was auch zu Kritik führt. Und nun kommen noch die ukrainischen Kinder dazu, die besondere Bedürfnisse haben. Schliesslich erhöhen die 50 ukrainischen Kinder die Anzahl der Schülerinnen und Schüler in der Gemeinde um knappe zehn Prozent. Gimmel: «Nun spitzt sich die Lage zu.»

Der Leiter der zuständigen Gemeindeverwaltung Saanen, Roman Gimmel sucht dringend Lehrer für 50 ukrainische Waisenkinder, die kürzlich in Gstaad angekommen sind.
Foto: Peter Mosimann
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Darum gibt es zu wenige Lehrer

In der Schweiz herrscht seit Jahren ein Lehrermangel. «Die Lage ist dramatisch», klagt Thomas Minder, Präsident der Konferenz der Schweizer Schulleiter. Vor allem im Kindergarten und der Unterstufe sei die Situation akut. «Die Kinder aus der Ukraine beschleunigen eine Situation, die sich ohnehin schon schweizweit zuspitzt.»

Doch Zahlen, wie viele Lehrpersonen genau fehlen, gebe es nicht, wie Stefan Wolter, Bildungsökonom und Direktor der Schweizerischen Koordinationsstelle für Bildungsforschung, sagt. Teilweise fehlen diese Angaben sogar in den Kantonen. Minder geht davon aus, dass im ganzen Land etwa 6000 Lehrkräfte fehlen.

Viele Kinder, alte Lehrer

Verursacht wurde der Mangel durch drei Entwicklungen: Die Schülerzahlen steigen noch immer, ausgelöst durch einen Geburtenboom nach der Jahrtausendwende. Zudem gehen die Lehrkräfte der Babyboomer-Generation in Pension, jedes Jahr sind das etwa 2000. Der Nachwuchs kann diese Lücke nicht füllen. Und Lehrerinnen und Lehrer lieben Teilzeit. Mehr noch, wie Wolter sagt: «sehr, sehr kleine» Pensen. In gewissen Kantonen liege der durchschnittliche Beschäftigungsgrad aller Lehrpersonen nur gerade knapp über 50 Prozent.

Pensen-Aufstockung wäre Lösung

Für Wolter ist der Ausweg klar: «Eine Steigerung des durchschnittlichen Beschäftigungsgrades aller Lehrpersonen um 10 bis 20 Prozent würde jeden Lehrermangel zum Verschwinden bringen.»

Etwas anderes schwebt Dagmar Rösler (50), Präsidentin des Lehrerinnen- und Lehrerverbandes (LCH), vor, die die hohe Arbeitsbelastung des Berufs beklagt: «Langfristig müssen sich die Arbeitsbedingungen verbessern, damit der Beruf attraktiver wird. Es gibt immer noch Kantone, die den Lohn nicht der Teuerung anpassen oder seit Jahren keine Anpassungen mehr vorgenommen haben», sagt sie.

Dass die Kinder plötzlich allein im Schulzimmer sind, sei aber nicht zu befürchten, so Bildungsforscher Wolter. Die Engpässe würden dennoch zu spüren sein: durch grössere Klassen und nicht qualifizierte Lehrpersonen. Gianna Blum und Sermîn Faki

Thomas Minder, Präsident der Konferenz der Schweizer Schulleiter.
Siggi Bucher

In der Schweiz herrscht seit Jahren ein Lehrermangel. «Die Lage ist dramatisch», klagt Thomas Minder, Präsident der Konferenz der Schweizer Schulleiter. Vor allem im Kindergarten und der Unterstufe sei die Situation akut. «Die Kinder aus der Ukraine beschleunigen eine Situation, die sich ohnehin schon schweizweit zuspitzt.»

Doch Zahlen, wie viele Lehrpersonen genau fehlen, gebe es nicht, wie Stefan Wolter, Bildungsökonom und Direktor der Schweizerischen Koordinationsstelle für Bildungsforschung, sagt. Teilweise fehlen diese Angaben sogar in den Kantonen. Minder geht davon aus, dass im ganzen Land etwa 6000 Lehrkräfte fehlen.

Viele Kinder, alte Lehrer

Verursacht wurde der Mangel durch drei Entwicklungen: Die Schülerzahlen steigen noch immer, ausgelöst durch einen Geburtenboom nach der Jahrtausendwende. Zudem gehen die Lehrkräfte der Babyboomer-Generation in Pension, jedes Jahr sind das etwa 2000. Der Nachwuchs kann diese Lücke nicht füllen. Und Lehrerinnen und Lehrer lieben Teilzeit. Mehr noch, wie Wolter sagt: «sehr, sehr kleine» Pensen. In gewissen Kantonen liege der durchschnittliche Beschäftigungsgrad aller Lehrpersonen nur gerade knapp über 50 Prozent.

Pensen-Aufstockung wäre Lösung

Für Wolter ist der Ausweg klar: «Eine Steigerung des durchschnittlichen Beschäftigungsgrades aller Lehrpersonen um 10 bis 20 Prozent würde jeden Lehrermangel zum Verschwinden bringen.»

Etwas anderes schwebt Dagmar Rösler (50), Präsidentin des Lehrerinnen- und Lehrerverbandes (LCH), vor, die die hohe Arbeitsbelastung des Berufs beklagt: «Langfristig müssen sich die Arbeitsbedingungen verbessern, damit der Beruf attraktiver wird. Es gibt immer noch Kantone, die den Lohn nicht der Teuerung anpassen oder seit Jahren keine Anpassungen mehr vorgenommen haben», sagt sie.

Dass die Kinder plötzlich allein im Schulzimmer sind, sei aber nicht zu befürchten, so Bildungsforscher Wolter. Die Engpässe würden dennoch zu spüren sein: durch grössere Klassen und nicht qualifizierte Lehrpersonen. Gianna Blum und Sermîn Faki

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Der Ort im Berner Oberland ist nicht allein mit dem Problem. Gemäss Staatssekretariat für Migration (SEM) sind unter den knapp 50'000 ukrainischen Geflüchteten in der Schweiz etwa 11'400 Kinder im schulpflichtigen Alter. 1700 davon im Kanton Bern, in Zürich sind es knapp 2000, in der Waadt und im Aargau noch je die Hälfte, wie die «Aargauer Zeitung» berichtet.

Kleine Gemeinden sind schnell überfordert

In kleineren Gemeinden mit wenigen geflüchteten Kindern werden diese oft von Beginn an in eine bestehende Klasse integriert. Wenn aber eine grosse Anzahl schulpflichtiger Kinder ankommt wie in Saanen oder in Kandersteg BE, wo seit Anfang April 23 Waisenkinder wohnen, müssen eigene Klassen für diese eröffnet werden.

Besonders für diese suchen die Gemeinden nun nach Lehrkräften – genommen werden auch Studierende, pensionierte Lehrpersonen oder Freiwillige. Sehr gefragt sind derzeit Deutschlehrerinnen und -lehrer für die ukrainischen Schüler.

Schon vor dem Ukraine-Krieg hatten viele Schulen Mühe, freie Stellen zu besetzen. Im Kanton Zürich rechnet man mit rund 100 zusätzlichen Klassen im nächsten Schuljahr, die ukrainischen Flüchtlinge noch nicht miteingerechnet. Etwa 1000 Pädagogen werden dort derzeit gesucht.

Oberste Lehrerin fordert Bundesgelder

Als oberste Lehrerin des Landes kennt Dagmar Rösler (50) den täglichen Aufwand der Schulen: «Wir haben es hier mit der grössten Flüchtlingsbewegung der letzten Jahre zu tun, ein grosser Teil der Integrationsleistung wird von den Schulen erbracht», sagt die Präsidentin des Lehrerinnen- und Lehrerverbandes (LCH).

Und eine Entspannung der Lage sei angesichts des Kriegsverlaufs nicht in Sicht. Rösler fordert darum, dass der Bund sich einschaltet: Dieser müsse finanzielle Mittel sprechen, «damit diese Integrationsleistungen unterstützt werden können», so Rösler.

EDK will finanzielle Fragen später klären

Auch der Kanton Basel-Landschaft hatte bereits nach Unterstützung vom Bund für die Sek- und Primarschulen gerufen. Doch von dort ist kaum Hilfe zu erwarten. Denn die Bildung ist Sache der Kantone. Insofern trifft Röslers Forderung auch bei der Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren auf taube Ohren.

Die Kantone hätten keine finanziellen Forderungen an den Bund gestellt, sagt Sprecher Stefan Kunfermann. Vorerst stehe die Beschulung der Kinder und Jugendlichen im Zentrum. Fragen betreffend einer finanziellen Unterstützung der Kantone durch den Bund sollten allenfalls zu einem späteren Zeitpunkt thematisiert und geklärt werden.

Roman Gimmel in Saanen hilft das wenig. Er hofft, dass der Kanton Bern wenigstens Lehrpersonen für die 50 Waisenkinder vermitteln kann. Und zwar vor dem 9. Mai.

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