Drei Jahre nach der Masseneinwanderungs-Initiative
Jetzt sinken die Mieten

Am 9. Februar 2014 sagte die Schweiz Ja zur Masseneinwanderungs-Initiative. Es war ein Schock für Politik und Wirtschaft. Wie geht es dem Land drei Jahre danach?
Publiziert: 06.02.2017 um 00:00 Uhr
|
Aktualisiert: 05.10.2018 um 21:02 Uhr
Sermîn Faki, Lea Hartmann, Benedikt Theiler und Simon Huwiler

Am Donnerstag ist es exakt drei Jahre her, dass die Schweizer Stimmbürger Ja zur Masseneinwanderungs-Initiative der SVP sagten und die Politik gehörig ins Schwitzen brachten. Das Parlament hat das Verdikt zwar formal umgesetzt – allerdings nicht so, wie es die Verfassung seit dem 9. Februar 2014 verlangt. Von einer eigenständigen Steuerung der Zuwanderung ist das Land noch immer meilenweit entfernt.

Doch wie ist es der Schweiz seitdem ergangen? BLICK hat Daten analysiert und untersucht, was sich getan hat mit den Symptomen des Unbehagens, die Anfang 2014 den Ausschlag gaben für ein Ja.

Symptom 1: Einmal St. Gallen – jedes Jahr

Seit Einführung der vollen Personenfreizügigkeit im Jahr 2007 kamen jedes Jahr etwa 80'000 Menschen in die Schweiz. Das entspreche einer Stadt wie St. Gallen und sei weder kulturell noch mengenmässig zu verkraften, argumentierte die SVP im Abstimmungskampf.

Diese Zeiten sind vorbei: Die Zuwanderung sinkt. Wanderten 2008 über 100'000 Ausländer ins Land ein, waren es 2016 noch etwa 60'000. Wie Daten des Bundesamts für Statistik zeigen, setzte der Rückgang gleichzeitig mit dem Volks-Ja 2014 ein (siehe Grafik).

Zwar wächst die Zuwanderung immer noch, doch die Zahl der Ausländer, die die Schweiz verlassen, steigt stärker an. Insbesondere Deutsche kehren uns den Rücken. Auch, weil es in ihrer Heimat wirtschaftlich aufwärtsgeht und sie dort attraktive Jobs finden. Doch das Ja zur Masseneinwanderungs-Initiative verstanden manche von ihnen auch als Signal, dass sie in der Schweiz nicht willkommen seien.

Symptom 2: Dichtestress

Die Wortneuschöpfung, mit der die Initiativbefürworter im Abstimmungskampf um sich warfen, wurde 2014 zum Unwort des Jahres gekürt: der Dichtestress. «Es wird eng in unserem Land», warnte die SVP. Wirklich?

Tatsache ist, dass die Preise bei ausgeschriebenen Mietwohnungen – ein Indikator für den Dichtestress auf dem Wohnungsmarkt – 2015 seit über 15 Jahren erstmals nicht gestiegen sind, sondern stagnierten und 2016 sogar leicht zurückgegangen sind. Sinkende Mieten gab es letztmalig 1999. Anfang 2017 setzt sich der Trend fort, wie aus dem Echtzeit-Immobilienindex von Immoscout hervorgeht.

Dass es nach dem knappen Ja zur Masseneinwanderungs-Initiative zu einer Entspannung auf dem Wohnungsmarkt gekommen ist, davon zeugt auch die Leerwohnungsziffer, die den Anteil leer stehender Wohnungen am gesamten Wohnungsbestand aufzeigt. Sie nahm seit 2009 zu und lag im vergangenen Jahr schweizweit so hoch wie seit dem Jahr 1999 nicht mehr.

Laut Robert Weinert, Leiter Immobilien-Monitoring bei Wüest Partner, hat dies neben dem tiefen Zinsniveau, das zu einer Erhöhung der Investitionen im Immobilienmarkt führte, auch mit dem Rückgang der Zuwanderung zu tun. Und die Entwicklung dürfte anhalten: Wüest Partner rechnet damit, dass die Leerstandsquote bis 2021 von heute zwei auf drei Prozent steigt.

Die Anzahl Staustunden nimmt seit Jahren zu.
Foto: Keystone

Definitiv enger geworden ist es derweil auf den Strassen. Die Anzahl Staustunden wegen Verkehrsüberlastung nimmt seit Jahren massiv zu. 2015 standen die Autos auf den Nationalstrassen deshalb knapp 20'000 Stunden im Stau – das sind über acht Prozent mehr als im Vorjahr. Pendler hingegen mussten kaum näher zusammenrücken – zumindest im Durchschnitt. Die Auslastung der Züge war laut Angaben der SBB 2015 nur leicht höher als im Jahr zuvor.

Symptom 3: Verdrängung auf dem Arbeitsmarkt

Die Warnung der SVP, dass durch die Zuwanderung ausufernde Mehrkosten für die Arbeitslosenkasse entstünden, hat sich bis heute nicht bewahrheitet. Die Personenfreizügigkeit hat nicht dazu geführt, dass günstigere und besser ausgebildete EU-Ausländer bereits in der Schweiz arbeitende Ausländer aus Drittstaaten in die Arbeitslosigkeit verdrängen.

Ebenso wenig hatte die Abstimmung vor drei Jahren irgendeinen erkennbaren positiven oder negativen Effekt auf den Arbeitsmarkt, wie Fabian Maienfisch vom Staatssekretariat für Wirtschaft bestätigt. Zwar verlangsame sich die Zuwanderung, was sich auch auf den Arbeitsmarkt auswirke. Jedoch bestehe kein Zusammenhang zur Initiative. Die Daten bestätigen dies: Die Arbeitslosenquote zeigt keine eindeutige Tendenz, weder nach oben noch nach unten, sondern dümpelt auf durchschnittlich niedrigem Niveau zwischen 2,8 und 3,6 Prozent.

Auf die Arbeitslosigkeit hatte das Ja zur Masseneinwanderungs-Initiative keine Auswirkungen.
Foto: Keystone

Der Blick auf den Zeitraum vor dem 9. Februar 2014 zeigt jedoch, dass die Befürchtungen der Initianten nicht unbegründet waren. Tatsächlich nahm die Arbeitslosenquote nach Einführung der Personenfreizügigkeit im Juni 2002 zu. Bis 2008 sank sie aber wieder auf das Niveau von Mai 2002 (2,3 Prozent). 2009 erreichte die Arbeitslosenquote ein zwar erneutes Rekordhoch, hier waren aber kaum die Effekte der Personenfreizügigkeit zu spüren, sondern vielmehr die der Finanzkrise und der Frankenstärke.

Symptom 4: Belastung der Sozialwerke

Im Abstimmungskampf warnte die SVP, die masslose Zuwanderung führe zu «enormen Kosten für die Sozialhilfe». Während Ausländer nur ein Viertel der Wohnbevölkerung ausmachen, sei es bei denjenigen, die Arbeitslosenversicherung oder Sozialhilfe beziehen, fast die Hälfte, rechnete die Partei vor.

Die Ausgaben für die Sozialhilfe werden erst seit 2005 statistisch erfasst, weshalb es nicht möglich ist, sie mit den Zuständen vor Einführung der Personenfreizügigkeit zu vergleichen. Allerdings zeigt sich seit 2008 – sechs Monate, nachdem die volle Personenfreizügigkeit für die alten EU-Mitglieder wie Deutschland, Frankreich, Italien und Portugal in Kraft trat – ein markanter Anstieg. Gaben die Kantone 2008 noch etwas unter 1,8 Milliarden Franken für Sozialhilfe aus, wuchs dieser Betrag bis 2014 – von dann stammen die letzten verfügbaren Zahlen – auf stolze 2,6 Milliarden Franken an.

Die Frage, ob die Zuwanderung aus der EU zum Anstieg beigetragen habe, beantwortet Remo Dörig von der Schweizerischen Sozialdirektorenkonferenz klar mit Nein. Gemäss Dörig liegen die Ursachen stattdessen zum einen in der Kostenentwicklung im Gesundheitswesen und auf dem Wohnungsmarkt. Zum anderen schlage sich die Konjunkturbewegung nieder: So ist wohl der Anstieg ab 2008 mit der Finanzkrise zu erklären, die sich zeitverzögert auf die Sozialhilfe auswirkte.

Auch demografische Faktoren – also die Bevölkerungsentwicklung – spielen eine Rolle. Was aber keine Geiss wegschleckt: Die Sozialhilfequote von EU-Ausländern ist höher als die von Schweizern: 2009 betrug sie 2,8 Prozent (Schweizer: 2,0 Prozent), 2015 waren es 3,1 Prozent (Schweizer: 2,2 Prozent).

Datenquellen: Bundesamt für Statistik, Staatssekretariat für Wirtschaft, Wüest Partner

Fehler gefunden? Jetzt melden
Was sagst du dazu?