Die Zürcher SP-Regierungsrätin Jacqueline Fehr will mehr Kontakt zu Muslimen
«Wir prüfen, eine islamische Gemeinschaft anzuerkennen»

Die Zürcher Justizdirektorin Jacqueline Fehr (53) über islamistische Radikalisierung, Stimmrecht für Ausländer und 14-Jährige, die politisch so fit sind wie 60-Jährige.
Publiziert: 24.07.2016 um 00:00 Uhr
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Aktualisiert: 05.10.2018 um 05:28 Uhr
Joël Widmer und Philippe Pfister

In Nizza rast ein Attentäter in eine Menschenmenge, in Würzburg attackiert ein Amokläufer Fahrgäste in einem Zug, in München erschiesst ein 18-Jähriger neun Menschen. Wie sicher fühlen Sie sich im Hauptbahnhof Zürich?

Ich komme jeden Tag mit dem Zug ins Büro und fühle mich sicher. Ich bin mir aber auch bewusst: Gegen Amoktäter kann man sich nur schwer schützen. Das sah man auch beim Fall German Wings. Menschen sitzen unschuldig in einem Flugzeug und sterben bei einer unfassbaren Tat.

Sie reisten letzte Woche nach Belgien und informierten sich in Vilvoorde über Präventionsarbeit. Machen es die Belgier wirklich besser?

Will die Integrationsarbeit noch besser machen: Die Zürcher SP-Regierungsrätin Jacqueline Fehr.
Foto: Sabine Wunderlin

Die Stadt Vilvoorde, nahe Brüssel, ist eine Art Insel. Sie hatte eine hohe Zahl von Dschihad-Reisenden. Nach einem Regierungswechsel hat die Stadt reagiert und ein erfolgreiches Mehr-Säulen-Modell aufgestellt mit Prävention, Repression und Deradikalisierung.

Was machen die Vilvoorder konkret?

Bei der Prävention wird die muslimische Gemeinde stark einbezogen. Und dies mit einer klaren Ansprache: Es sind eure Kinder, die reisen. Es sind eure Kinder, die ihr verliert. Es ist eure Verantwortung, das Problem mit uns anzugehen.

Was kann man bei uns verbessern?

Wir sollten die muslimische Bevölkerung besser in unsere Arbeit einbeziehen. Das muss lokal in den Gemeinden passieren.

Mit welchen Leuten tritt man in Kontakt?

Mit den muslimischen Vereinen, Fussballclubs und den Moscheevereinen. Aber auch mit Elternarbeit in den Schulen.

Wie reagieren Sie, wenn ein Muslim Ihnen die Hand nicht gibt?

Als Privatperson akzeptiere ich das als kulturelle Eigenheit, wie bei einem Japaner, der sie mir nicht geben will. Als Lehrerin würde ich aber auf dem Handschlag bestehen.

Warum?

Weil es eine Regel ist, die in dieser Klasse gilt. Wie es die Regel geben kann, dass man zu Beginn des Unterrichts aufsteht. Rituale sind wichtig.

Ist es für Sie erstrebenswert, dass muslimische Gemeinschaften staatlich anerkannt werden?

Ein verbindliches Gegenüber würde vieles erleichtern, zum Beispiel bei Fragen zur Imam-Auswahl und -Ausbildung oder der Finanzierung von Moscheen. Heute können wir auf die privaten Vereine keinen Einfluss nehmen. Die Anerkennung würde bedingen, dass die Muslime bereit wären, sich entsprechende Strukturen zu geben. Sie müssten die Finanzen offenlegen, Wahlstrukturen und klare Gremien schaffen. Das sind Bedingungen für alle Religionsgemeinschaften. Und daran ist es bis jetzt immer gescheitert. Die muslimische Gemeinschaft ist heterogen, in viele kleine Gruppierungen zersplittert.

Dann ist eine Anerkennung illusorisch?

Nein. Wir prüfen derzeit, welche Möglichkeiten es gibt, eine einzelne islamische Gemeinschaft staatlich anzuerkennen. Die bosnisch-islamische Gemeinschaft zum Beispiel ist ähnlich organisiert wie die katholische oder reformierte Kirche. Über sie könnten wir zum Beispiel Fragen der Seelsorger in Gefängnissen oder Spitälern klären.

Die bosnische Gemeinschaft wäre also anerkannt, aber nicht Landeskirche?

Es wäre wie bei den jüdischen Gemeinschaften. Da hat das Zürcher Volk auch zwei einzelne Gemeinden anerkannt. Wir können uns von ihnen beraten lassen. Sie wirken wiederum auf andere jüdische Gemeinschaften ein. So könnten wir uns das auch bei muslimischen Organisationen vorstellen.

Der Sicherheitsverbund Schweiz will eine Registrierungspflicht für Imame: Was halten Sie davon?

Wir haben ein hohes Interesse zu wissen, woher die Imame kommen, welche Ausbildung sie haben, welche Richtung sie vertreten. Wir haben aber im Moment keine Handhabe dafür. Auch Imam-Ausbildungen in der Schweiz würden mehr Gewähr bieten. Das Ziel ist: Wer in einer Moschee im Kanton Zürich predigt, muss gewisse Voraussetzungen erfüllen.

Ist das nicht illusorisch? In Freikirchen predigen irgendwelche Leute aus der Bibel.

Mit dem Register hat man noch keine Sicherheit. Entscheidend ist, dass wir mit diesen Leuten in Kontakt sind. Das ist ja bewältigbar: Es handelt sich um eine Handvoll Leute im Kanton Zürich. Es braucht wie in der ganzen Integrationspolitik eine klare Haltung unsererseits: Ihr seid Teil unserer Gesellschaft und deshalb erwarten wir, dass ihr gemeinsam mit uns Verantwortung für ein friedliches Zusammenleben übernehmt.

Wie wichtig ist das neue Nachrichtendienstgesetz?

Der beste Schutz ist, wenn man weder panisch noch sorglos, sondern wachsam ist. Das Nachrichtendienstgesetz ist wichtig, löst aber das Problem nicht alleine. Ebenso wichtig ist die angesprochene Integrationspolitik. Sie ist heute ein zentraler Pfeiler der Sicherheitspolitik.

Der Kanton Zürich hat keine zentrale Anlaufstelle für Radikalismus. Ein Manko?

Die Städte Zürich und Winterthur haben solche Stellen. Schwierig ist es für die Agglomerationen. Da prüfen wir, ob es eine kantonale Anlaufstelle oder nicht doch kommunale Angebote braucht. Nähe und lokale Kenntnisse sind in diesem Bereich entscheidend.

Die Waffenverkäufe in der Schweiz nehmen zu, wohl auch aus Angst.

Eine bewaffnete Gesellschaft ist eine gefährliche Gesellschaft. Das Gewaltmonopol gehört in die Hände der Polizei.

Experten sehen auch Pfefferprays als Mittel.

Ich selbst habe keinen Pfefferspray. Wenn sich aber eine Frau sicherer damit fühlt, ist das okay.

«Eine Gemeinde könnte beispielsweise vier Jahre lang Ausländern, die seit mindestens fünf Jahren da sind, das kommunale Stimmrecht erteilen», sagt die Zürcher SP-Regierungsrätin Jacqueline Fehr.
Foto: Sabine Wunderlin

In Belgien werden Ausländer ab Geburt eingebürgert. Ist das Wahlrecht für Ausländer auch ein Modell für die Schweiz?

Es hilft, wenn Leute mitbestimmen und Verantwortung übernehmen. In Belgien ist es normal, dass in einer Exekutive jemand mit muslimischem Hintergrund sitzt. Wichtig sind aber auch muslimische Leute in unseren Fachstellen, die gegenüber der muslimischen Gemeinschaft Schweizer Werte vermitteln.

Konkret: Sollen Ausländer politische Rechte ausüben können?

Im Kanton Appenzell Ausserrhoden können sie das. Als Pionierkanton würde das auch dem Kanton Zürich gut anstehen. Man könnte ja in einem ersten Schritt Versuche machen. Eine Gemeinde könnte beispielsweise vier Jahre lang Ausländern, die seit mindestens fünf Jahren da sind, das kommunale Stimmrecht erteilen.

Das könnte ja ihre Heimatstadt Winterthur einführen ...

... oder Herrliberg. Die meisten Ausländer kommen über die Arbeit zu uns. Die Gemeinden am Zürichsee haben viele Expats. Das sind Leute, die in Kadern von Unternehmen über Arbeitsplätze bestimmen. Sie können aber nicht mitbestimmen, wie die Schule aussieht, in die ihre Kinder gehen.

Für die Integration ist die Arbeitswelt wichtig. Warum stellen dennoch wenige Firmen Flüchtlinge ein?

Wir haben mit zwei grösseren Firmen Programme für Flüchtlingslehren aufgebaut. Das Gewerbe und die KMUs sind sehr engagiert. Auch Lehrmeister leisten eine grosse Arbeit in der Integration.

Es geht aber nicht nur um Jugendliche, sondern schwieriger ist es bei erwachsenen Flüchtlingen.

Ich würde es sehr begrüssen, wenn die Landwirtschaft mehr Eritreer beschäftigen würde, statt in Polen neue Landarbeiter zu rekrutieren. Wir sollten die Leute beschäftigen, die schon hier sind. Da braucht es noch viel Überzeugungsarbeit.

Sie haben auf Facebook vorgeschlagen, jungen Menschen an der Urne zwei Stimmen zu geben, Alten dagegen nur noch eine. Es gab einen Aufschrei. Haben Sie das wirklich ernst gemeint?

Ich habe immer gesagt, dass ich selber skeptisch bin. Man soll aber Ideen diskutieren können, auch wenn sie nicht nur auf Applaus stossen. Ich bin sicher geprägt von den zähen Kämpfen für eine bessere Familienpolitik. Es ist in vielen Gemeinden extrem schwierig, Anliegen wie Kitas oder Spielplätze durch die Gemeindeversammlung zu bringen.

Weil die Alten immer mehr werden.

Ja und weil ein beachtlicher Teil meint, dass es früher auch ohne diese Angebote gegangen sei. Diese Haltung jedoch vernichtet Fortschritt. Das gewichtete Stimmrecht hat die Diskussion angestossen. Es ist aber nicht die Lösung. Besser wäre es, den Dialog über Politik zwischen den Generationen zu verstärken, so wie das die Juso mit der SP 60+ im Kanton Zürich mit der «Denkbar» macht. Aber auch das Ausländerstimmrecht, das Stimmrechtsalter 16 oder auch 14 sind gute Ideen.

Stimmrecht ab 14?

Das wäre ein Stimmrecht auf Antrag. Wenn jemand mit 14 mitbestimmen will, könnte er das beantragen. Es gibt 14-Jährige, die politische so fit sind wie 60-Jährige.

Nochmals: Warum macht ausgerechnet eine Justizministerin den Vorschlag, ein Grundrecht auszuhebeln?

Ich finde den Grundsatz «One man, one vote» sehr wichtig. Aber wir alle müssen uns immer wieder mit der Frage auseinandersetzen, wer eigentlich zur Schweizer Gemeinschaft gehört und mitbestimmen sollte. Wir sind ein Pionierland der Demokratie. Das wurden wir auch, weil wir uns keine Denkverbote auferlegt haben.

Es gibt auch die Idee, Eltern sollen Stimmrecht der Kinder haben.

Auch das wäre ein gewichtetes Stimmrecht – einfach zugunsten der Familien. Das gewichtete Stimmrecht gibt es aber auch beim Ständerat.

Da könnte man ja auch fordern, dass gute Steuerzahler mehr Stimmgewicht erhalten.

Genau deshalb bin ich selber gegenüber dem gewichteten Stimmrecht skeptisch.

Was halten Sie von einer allgemeinen Dienstpflicht, auch für Frauen?

Ich begrüsse es, wenn Frauen in der Armee mitmachen. Ich bin aber generell keine Freundin der Wehrpflicht. Wir brauchen nicht mehr Leute im Militär. Wir brauchen mehr Leute in der Pflege. Es bräuchte also eine generellere Dienstpflicht – und die könnte durchaus für Frauen und Männer gelten. Man müsste aber zum Beispiel auch die Pflege der Angehörigen einrechnen. Die Frauen müssen keine Angst vor der allgemeinen Dienstpflicht haben, denn sie leisten heute schon enorm viel.

Bei der Umsetzung der Masseneinwanderungs-Initiative harzt es gewaltig. Beunruhigt sie das?

Sehr. Die Zürcher Regierung macht sich grosse Sorgen. Die Drittstaaten-Kontingente sind für den Kanton Zürich zu klein. Wir brauchen auf unserem Hochschul- und Wirtschaftsplatz einfach sehr viele internationale Leute.

Das Volk will die Zuwanderung begrenzen. Da können Sie doch nicht einfach die Drittstaaten-Kontingente ausbauen.

Der Kanton Zürich hat die Zuwanderungs-Initiative nicht unterstützt. Darum fühlen wir uns als Regierung legitimiert, klar für eine offene und liberale Schweiz Position zu beziehen. Die zweite grosse Sorge ist das Forschungsprogramm Horizon 2020. Das bedroht die Hochschulen massiv. Der Verlust von Horizon 2020 würde die Hochschulen auf einen Schlag deutlich weniger attraktiv machen. Forschung ist so mobil wie Kapital. Man muss also das Kroatien-Protokoll sofort unterzeichnen.

Und wie sollte die Initiative umgesetzt werden?

Die Verfassung besteht nicht nur aus einem Artikel. Wir müssen im weiteren politischen Prozess entscheiden, wie wir die Widersprüche auflösen. Ein Gegenvorschlag zur Rasa-Initiative ist eine Möglichkeit. Sicher auch eine Politik, die das inländische Potenzial nutzt, also Flüchtlinge statt Polen, bessere Chancen für Angestellte über 50 und mehr Frauen in den Arbeitsmarkt. Und vielleicht ist es schlau, nochmals abzustimmen.

Die Wirtschaft foutiert sich aber grösstenteils um die Zuwanderungsbegrenzung.

Etwas habe ich nie verstanden: Warum fordern ausgerechnet jene politischen Kreise, die sonst gegen jegliche staatliche Regulierung in der Wirtschaft sind einen gesetzlich verordneten Inländervorrang? Das kann doch jedes Unternehmen selber. Eine Firma wie die Ems-Chemie kann doch ohne staatlichen Zwang einen Inländervorrang umsetzen. Dazu braucht es doch keine Gesetze! Da braucht es die Eigenverantwortung von Unternehmen, die wissen, dass ihre Angestellten auch Stimmbürger sind.

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