Der Gewerkschaftsboss legt sich mit dem Bundesrat an
Wie tickt Paul Rechsteiner?

Gewerkschaftsboss Paul Rechsteiner boykottiert Gespräche mit dem Wirtschaftsminister über Lohnschutz-Anpassungen. Die verbalen Prügel, die er deshalb kassiert, lassen ihn kalt. Wer seine Geschichte kennt, den kann das nicht überraschen.
Publiziert: 19.08.2018 um 15:18 Uhr
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Aktualisiert: 14.09.2018 um 22:33 Uhr
Thomas Schlittler

November 2011: St. Galler Jungsozialisten ziehen durch die Kantonshauptstadt, um für ihren Ständeratskandidaten zu werben. In den Händen tragen sie ein Plakat: «Schnäuze für Paul», im Gesicht selbst gemachte Oberlippenbärte.

Der Coup gelingt: Paul Rechsteiner sticht den damaligen SVP-Parteipräsidenten Toni Brunner aus und schafft den Sprung ins Stöckli. Unglaublich, im konservativen Kanton St. Gallen gewinnt ein Sozialdemokrat eine Mehrheit für sich! Und nein, kein Pragmatiker à la Pascale Bruderer oder Daniel Jositsch, sondern ein Gewerkschafter, ein Klassenkämpfer, ein Anti-Cüpli-Sozi. «Sternstunde der Linken», jubelt der «Tages-Anzeiger».

Seit einer Woche bestimmt Rechsteiner erneut die Schlagzeilen. Applaus und Anerkennung aber gibt es dieses Mal kaum. Dass er bekannt gab, die innenpolitischen Gespräche über eine allfällige Anpassung der flankierenden Massnahmen zu boykottieren, sorgt für rote Köpfe. Arbeitgeberverbände und bürgerliche Parteien toben, «Vertrauensbruch», nennt es ein verärgerter Bundesrat Johann Schneider-Ammann. Und selbst prominente SP-Politiker üben Kritik. Die Gesprächsverweigerung sei nicht nur stur und unverantwortlich, sondern unschweizerisch.

Gewerkschaftsboss Paul Rechsteiner will mit Bundesrat Johann Schneider-Ammann nicht über Anpassungen bei den flankierenden Massnahmen diskutieren – und erntet dafür Kritik von links bis rechts.
Foto: Patrick Luethy
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Er nimmts ganz gelassen

Nur einer scheint die Aufregung ziemlich gelassen zu nehmen: Paul Rechsteiner. SonntagsBlick trifft den Buhmann der Stunde in einem Café am Zürcher Hauptbahnhof. Rechsteiner kommt mit dem Zug aus Bern, wie immer zweiter Klasse. Er bestellt ein Bitter Lemon und sagt in gewohnt nüchternem Ernst: «Vieles wird dramatisiert.»

Müdigkeit? Aufregung? Stress? Fehlanzeige.

Rechsteiner redet schnell, holt weit aus. Er zeigt einen fast jugendlichen Elan, als bespreche er das Thema zum ersten Mal. Kurze, einfache Antworten dagegen sind nicht seine Stärke:

Frage: «Haben die Reaktionen Sie überrascht, die Ihre Gesprächsverweigerung auslöste?»

Rechsteiner: «Damals, beim EWR-Nein 1992, war der Lohnschutz für die Gewerkschaften kein Thema ...»

Frage: «Wäre es nicht taktisch klüger gewesen, zumindest alibimässig mit Johann Schneider-Ammann an den Verhandlungstisch zu gehen?»
Rechsteiner: «Als es 1999 um die Einführung der bilateralen Verträge ging ...»

Der Jurist arbeitet noch immer als Strafverteidiger. Seine Leidenschaft aber ist die Geschichte. Er stellt Dinge gerne in einen historischen Zusammenhang. Auch um Rechsteiner zu verstehen, muss man seine Geschichte kennen.

Gegenspieler von Christoph Blocher

Der 65-Jährige sitzt sein halbes Leben im Parlament: 1986, im ersten Jahr als Nationalrat, sammelt er Unterschriften gegen eine Asylgesetzrevision. In den Folgejahren ist er Präsident der Anti-Apartheid-Bewegung und Gegenspieler von Christoph Blocher, der das südafrikanische Regime unterstützt. In den 90ern kämpft Rechsteiner in Bern für die Aufklärung der Fichen-Affäre und in St. Gallen für die Rehabilitierung des Polizeihauptmanns Paul Grüninger. Der hatte im Zweiten Weltkrieg Tausenden Juden die Einreise in die Schweiz ermöglicht, wurde entlassen, strafrechtlich verurteilt und gesellschaftlich geächtet.

Ende 1998 folgt die vorläufige Krönung: Präsident des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes (SGB). Wenige Wochen nach seiner Wahl fragt die Wochenzeitung («WoZ»): «Setzt Rechsteiner die bilateralen Verträge aufs Spiel?»

Der Grund: Gleichzeitig mit seiner Wahl beschlossen die Gewerkschaften, die bilateralen Verträge nur zu akzeptieren, wenn griffige Lohnschutzmassnahmen eingeführt werden. Es ist die Geburtsstunde der flankierenden Massnahmen.
Fast 20 Jahre später sind die flankierenden Massnahmen zum Schutz vor EU-Dumpinglöhnen längst Schulstoff, Rechsteiner noch immer Gewerkschaftsboss. Und er wird nicht müde, zu betonen: «Die flankierenden Massnahmen sind unantastbar.»

«Nichts zu diskutieren»

Von Gesprächsverweigerung oder einer bewussten Provoka­tion will er nichts wissen: «Wir haben lediglich unsere Position in dieser Sache klargestellt. Beim Lohnschutz gibt es nichts zu diskutieren.» Aber er sei selbstverständlich ständig im Gespräch mit den Bundesräten – auch mit ­Johann Schneider-Ammann.

Bereits am Donnerstag habe er den Wirtschaftsminister wieder getroffen, einen persönlichen Konflikt gebe es nicht: «Wir hatten nie ein besonders inniges oder gar freundschaftliches Verhältnis, wie nun kolportiert wird. Natürlich kennen wir uns seit Jahren, doch es ging immer nur um die Sache. So auch jetzt.»

Rechsteiner ist überzeugt, dass die Gewerkschaften in der Frage des Lohnschutzes das Volk hinter sich haben. «Ich habe selten so viele positive Rückmeldungen erhalten wie in dieser Angelegenheit.»

Im Übrigen vertraut Rechsteiner erstaunlicherweise auf den Bundesrat: «Die zwei SVP-Bundesräte werden sich sowieso gegen ein Rahmenabkommen mit der EU aussprechen. Und wenn die flankierenden Massnahmen angetastet werden, sind auch die SP-Bundesräte dagegen. Wir sind deshalb in einer starken Position.»

Die Aussage zeigt, wie kaltschnäuzig Rechsteiner ist, wenn es um «seine Sache» geht. Es ist voraussichtlich sein letzter Kampf als Gewerkschaftspräsident, Ende Jahr tritt er ab.

In den Ständerat einziehen will er 2019 aber erneut – Schnauz und Kaltschnäuzigkeit inklusive.

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