Der Aargau und seine überraschende Corona-Politik
Vom Trödler zum Turbo

Ausgerechnet der bürgerlich dominierte Aargau prescht in der Corona-Krise vor. Einst ein Trödler, ist er nun jeweils der erste, der Verschärfungen beschliesst. Wie kommts?
Publiziert: 23.01.2021 um 14:46 Uhr
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Aktualisiert: 25.02.2021 um 09:01 Uhr
Die Kehrtwende im Kanton Aargau unter Gesundheitsdirektor Jean-Pierre Gallati überrascht.
Foto: keystone-sda.ch
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Noa Dibbasey und Lea Hartmann

Er war der erste Kanton, der die Läden dichtgemacht hat, nun prescht der Aargau auch bei den Schulen vor. Vor allen anderen hat die Aargauer Regierung diese Woche den Mittel- und Berufsschulen wieder Fernunterricht verordnet.

Und auch was die Hilfen für die von der Corona-Krise am stärksten betroffenen Betriebe angeht, macht der Aargau Nägel mit Köpfen. Innert Kürze zimmerte der Regierungsrat ein grosszügiges Hilfspaket. Es sei für Restaurants die «beste Lösung der ganzen Schweiz», lobte der kantonale Gastroverband.

Überlastete Ärzte fuhren der Regierung ein

Im Rest der Schweiz reibt man sich die Augen über die Kehrtwende des Aargaus. Schliesslich sah es Anfang Dezember noch ganz anders aus. Obwohl der Kanton wegen steigender Zahlen unter erheblichem Druck des Bundes stand, behauptete Gesundheitsdirektor Jean-Pierre Gallati (54, SVP), dass von einer Notsituation nicht die Rede sein könne. Die Spitäler hätten noch genügend Kapazitäten. Die Massnahmen verschärfen? Dazu gebe es keine Veranlassung.

Erst, als sich die Situation massiv zuspitzte, sah die Regierung Handlungsbedarf. Im wöchentlichen Lagebericht des Kantons wird zu diesem Zeitpunkt so deutlich wie nie zuvor davor gewarnt, dass eine Überlastung der Spitäler drohe, weil viel Personal krankheitshalber fehle. «Einmal musste ein aargauisches Spital fünf Stunden telefonieren, um noch einen freien IPS-Platz für einen jungen Patienten zu finden», erzählt Gallati. Fündig wurde man dann in Genf.

Das fuhr der Regierung offensichtlich ein. Der Trödel-Kanton preschte plötzlich vor. Ausgerechnet der bürgerliche Aargau mit einem SVPler an der Spitze der Gesundheitsdirektion mauserte sich innert Kürze zum Corona-Pionier.

«Wir sind einfach konsequent»

Von einem Gesinnungswandel könne aber nicht die Rede sein, findet Regierungsrat Markus Dieth (53, Die Mitte). «Wir sind einfach konsequent und konsistent», sagt er. Oder wie Gesundheitsdirektor Gallati sagt: «Wir haben nur Massnahmen umgesetzt, die aufgrund der Kapazitäten im Gesundheitswesen wirklich nötig sind und die auch eine Wirkung haben. Von symbolischen Massnahmen sahen wir ab.»

Man könnte aber auch sagen: Während die andern handelten, wartete der Aargau erstmal ab. Und zog dann im letzten Moment die Notbremse. «Ich habe mich zeitweise gefragt, ob die Entscheidungsträger überhaupt schon einmal auf einer Intensivstation waren und vor Ort mit dem Gesundheitspersonal geredet haben», sagt Gabriela Suter, Aargauer SP-Präsidentin und Nationalrätin. «Denn die Situation war schon lange dramatisch und die Hilferufe der Spitäler deutlich hörbar.»

Schüler machten Druck

Inzwischen hat sich die Situation in Spitälern und Heimen im Kanton wieder etwas beruhigt – die Fallzahlen sind deutlich gesunken, ebenso die Auslastung der Spitäler. Trotzdem preschte der Aargau mit dem Präsenzverbot für Kantons- und Berufsschulen nun erneut vor. Grund dafür sind die gefährlichen Virus-Varianten. Zwar wurden im Aargau bislang nur wenige Fälle nachgewiesen, doch die Zahl verdopple sich jede Woche, sagt Gallati – eine besorgniserregende Entwicklung.

Eine wichtige Rolle spielte zudem dem Vernehmen nach der grosse Druck, der in dieser Sache auf die Regierung ausgeübt wurde. Nicht nur Schulen und Lehrer, auch Schülerinnen und Schüler hatten sich beim Regierungsrat dafür eingesetzt, dass wieder auf Fernunterricht umgestellt wird.

Aargauer SVP ist stinksauer

Mit seinem strengen Corona-Kurs bringt Gallati die eigenen Reihen gegen sich auf. «Dass man sogar weiter geht als der Bund – absolut unverständlich», regt sich der Aargauer SVP-Präsident und Nationalrat Andreas Glarner (58) auf. Die SVP wehrt sich mit Vehemenz bereits gegen die bestehenden Massnahmen – weitere kommen aus ihrer Sicht ganz sicher nicht infrage. An Gallati perlt die Kritik bis anhin ab.

Nicht zuletzt zeigen auch die Impfzahlen, dass der Kanton noch nicht in allen Bereichen als Vorbild gelten kann. Wie ein Blick auf die nationale Impfstatistik zeigt, gehört der Aargau zu den Kantonen, die am langsamsten impfen. Was die Aargauer aber zumindest freuen dürfte: Noch sind sie besser unterwegs als die Zürcher.

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