Bundesratswahlen: Verräter, Putschisten und wilde Kandidaten
Die Nacht der langen Messer

Die Nacht der langen Messer – die Nacht vor einer Bundesratswahl – kann in diesem Lande der Konkordanz ungeheure und lang anhaltende Sprengkraft entwickeln.
Publiziert: 18.09.2017 um 00:00 Uhr
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Aktualisiert: 10.09.2018 um 15:30 Uhr
Von René Lüchinger

Der erste Verräter ist ein Freisinniger: Felix Auer, FDP-Nationalrat aus Baselland, handelt im Auftrag seiner Partei. Er hat einen Sprengkandidaten zu suchen gegen die von der Sozialdemokratie nominierte Zürcher Nationalrätin Lilian Uchtenhagen. Diese verkörpert alles, was die Bürgerlichen anno 1983 verabscheuen. Sie ist links. Intelligent. Eigenwillig – manche Männer nennen dies arrogant. Und eine Frau – ein Dutzend Jahre nach der Einführung des Frauenstimmrechts für manchen Politiker noch immer gewöhnungsbedürftig.

Die Nacht der langen Messer entsteht

So lautet Auers Auftrag: Mann sucht Mann als Bundesrat. Fündig wird er im solothurnischen Dornach. Dort hockt Otto Stich in seinem Zuhause und grübelt über sein Leben: Er ist jetzt 56 Jahre alt. Nüchtern betrachtet befindet er sich in einer misslichen Lage. Aus dem Nationalrat hat ihn seine eigene Partei nach zwei Jahrzehnten hinausgedrängt. Bei seinem Arbeitgeber, dem Detaillisten Coop, ist Otto Stich bei der Beförderung zum Direktor übergangen worden. Dieser Mann ist empfänglich für einen neuen Job, dessen ist sich Auer sicher –er hat schliesslich an der Uni neben ihm gesessen und im Nationalrat eine Reihe hinter ihm.

Am Abend vor der Bundesratswahl klingelt in Dornach das Telefon. Am Draht: Studienkollege Auer. Er steht in einem Berner Restaurant, will wissen, ob Stich im Falle einer Wahl zum Bundesrat eine Verzichtserklärung habe unterschreiben müssen. Der Angesprochene verneint knurrend, niemand rechne damit, dass er gewählt werde. Doch Auer weibelt für Stich und führt mit diesem Dolchstoss gegen die Frau für die trüben Stunden vor der Wahl einen neuen Begriff in den politischen Jargon der Schweiz ein: die Nacht der langen Messer. Am nächsten Tag, nach nur einem Wahlgang, verkündet der Genfer Ratspräsident André Gautier: «Est élu avec 124 voix Monsieur Stich.» Diese Wahl verändert die Schweiz. Als abgewatschte Verlierer schleichen die Sozialdemokraten aus dem Nationalratssaal. Die freisinnig-bürgerliche Phalanx hatte die Linke in die Schranken gewiesen. Was damals noch keiner wissen kann – Stichs Wahl markiert das Ende der freisinnigen Dominanz im Land.

Nacht der langen Messer: gewählter Otto Stich.
Foto: Keystone
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Jede Wahl hat Potential für Überraschung

Als keine zwölf Monate später eine Bundesratsersatzwahl für den FDP-Magistraten Rudolf Friedrich ansteht, wissen die Ladykiller von damals, dass die Partei nun nicht mehr umhin kommt, eine Frau als Kandidatin zu nominieren – die Zürcherin Elisabeth Kopp. Als zweiter Kandidat kommt der stockbürgerliche Aargauer Bruno Hunziker aufs Ticket, die FDP-Granden gehen davon aus, dass dieser auch gewählt wird – es gewinnt aber Kopp, zum Sieg getragen durch zahlreiche SP-Stimmen. Als Elisabeth Kopp rund vier Jahre später wegen der sogenannten Kopp-Affäre zurücktreten muss, ist der SP-Mann Otto Stich Bundespräsident und rührt keinen Finger für die bedrängte Magistratin.

Von dem Kopp-Rücktritt hat sich der Freisinn bis heute nicht erholt, während dieser für die 68er innerhalb der SP den Marsch durch die Institutionen ermöglicht. Etwa für Moritz Leuenberger, dem PUK-Präsidenten während der Kopp-Affäre und späteren Langzeit-Bundesrat als Nachfolger von Otto Stich.

Die Nacht der langen Messer im Jahre 1983: Für die FDP endet diese in ihrer Langzeitwirkung im Fiasko. Als ein Vierteljahrhundert später Eveline Widmer-Schlumpf nach einer Nacht der langen Messer mit einer linksgrünen Mehrheit Christoph Blocher aus der Regierung verdrängt, stürzt dies das Land erneut in eine Langzeitkrise.

Die Geschichte lehrt: Nächte der langen Messer können in diesem Land der Konkordanz eine ungeheure und lang anhaltende Sprengkraft entwickeln.

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