Bundesrat kürzt Sozialhilfe – 2000 Fr. müssen für sieben Köpfe reichen
«Ich habe ständig Angst, meine Kinder nicht ernähren zu können»

Angehörigen von Drittstaaten soll die Sozialhilfe gekürzt werden. Der Vorschlag des Bundesrats stösst auf wenig Zustimmung – nur die SVP und die Mitte stellen sich dahinter. Die Leidtragenden sind Familien wie jene von Faezy Mohammed.
Publiziert: 04.05.2022 um 12:25 Uhr
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Aktualisiert: 06.05.2022 um 15:27 Uhr
Laura Montani (Text) und Stefan Bohrer (Fotos)

Wattwil SG im Toggenburg. In einem alten Mehrfamilienhaus mit hellblauer Schindelfassade lebt Faezy Mohammed (45) mit Frau Ali Shadia (41) und den fünf Kindern Haydar (15), Hala (13), Ali (9), Youssef (4) und Aileen (8 Monate). Die kleinste Tochter schläft auf dem Sofa, in eine rosa Decke gekuschelt. Über einen Schlauch in der Nase wird sie ernährt – denn wie auch ihr Bruder Youssef leidet sie an einem Gendefekt.

Die Familie lebt seit sieben Jahren in der Schweiz. Gemeinsam mit seiner ersten Frau – der Mutter von Haydar, Hala und Ali – hatte Mohammed 2015 entschieden, sein von Bürgerkrieg zerrüttetes Heimatland Syrien zu verlassen: «Wir wollten unseren Kindern eine bessere Zukunft ermöglichen», so der Familienvater. Seine damals schwangere Frau starb auf der Flucht in Griechenland, Mohammed und die Kinder schafften es in die Schweiz.

Weniger Sozialhilfe als Schweizerinnen

Die Flucht vor dem Bürgerkrieg gilt hier aber nicht als Asylgrund, deshalb ist die Familie «vorläufig aufgenommen». Die Sozialhilfe, die sie erhalten, ist geringer als der Normalsatz. Wohnung und Krankenkasse werden vom Sozialamt bezahlt. Den täglichen Bedarf muss die siebenköpfige Familie mit knapp 2000 Franken bestreiten.

Faezy Mohammed floh mit seinen drei älteren Kindern aus Syrien in die Schweiz. Im Gepäck hatte er nichts ausser der Hoffnung auf ein besseres Leben.
Foto: STEFAN BOHRER
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Geht es nach dem Bundesrat, soll es auch für andere Ausländer ohne Schweizerpass bald weniger sein. Ausländerinnen und Ausländern, die nicht aus der EU kommen, sollen nämlich drei Jahre lang die Sozialgelder gekürzt werden, «um Anreize für eine bessere Arbeitsintegration zu schaffen», wie es heisst. Von der Änderung wäre Familie Mohammed nicht betroffen, denn sie lebt schon lange hier. Zudem soll bei Personen aus dem Asylbereich nicht weiter gekürzt werden – sie bekommen ja schon weniger.

Er engagiert sich ehrenamtlich – und hofft auf ein Praktikum

Doch am Beispiel der siebenköpfigen Familie lässt sich gut zeigen, welche Hürden sich bei der Integration stellen. Eine geringe Arbeitsmotivation ist gemäss Tina Peschko (42) vom Hilfswerk der Evangelisch-reformierten Kirche Schweiz (Heks) in den allerwenigsten Fällen das Problem. «In meinen 15 Jahren in diesem Beruf kann ich diese Fälle an einer Hand abzählen», sagt sie.

Peschko begleitet Mohammed im Rahmen des Programms Heks Visite Ostschweiz, das Menschen in Sozialhilfe regelmässig Einsätze in Non-Profit-Organisationen vermittelt. Mohammed etwa ist ehrenamtlicher Fahrer bei einem Fahrdienst für Betagte und Menschen mit Beeinträchtigungen. Aktuell ist er auf der Suche nach einer Praktikumsstelle, um wieder Anschluss ans Berufsleben zu finden – trotz zahlreichen Bewerbungen bislang nicht erfolgreich.

Für neue Kleider reicht es nie

«Ich habe ständig Angst, meine Kinder nicht ernähren zu können», sagt Mohammed im Gespräch mit Blick. Sie seien dankbar für die Unterstützung in der Schweiz, dafür, in Sicherheit zu sein. Aber selbstbestimmt leben können sie nicht. Und die Integration sei ebenfalls schwierig: Kindergeburtstage, Teilnahme am Vereinsleben, Ausflüge: «Alles kostet Geld», so Mohammed. «Kleider kaufen wir gebraucht, für neue reicht es nie.»

«Integration kostet Geld», sagt auch Tina Peschko. Auch jene in den Arbeitsmarkt. Für Menschen in Sozialhilfe sei der Zugang zum bezahlten Arbeitsmarkt aus vielen Gründen schwierig. Ansetzen müsse man bei Bildungsmassnahmen und der Förderung von sprachlichen Kompetenzen. Auch Unterstützung beim Bewerbungsprozess sei zentral.

«Mit einer Kürzung der Sozialhilfe wird diese Grundproblematik ignoriert, und die Lebenssituation der betroffenen Menschen und somit auch ihre Integrationsfähigkeit werden zunehmend verschärft», sagt Peschko. Die Änderung, wie der Bundesrat sie vorschlägt, sei wohl kontraproduktiv.

Kantone zerzausen Bundesrats-Pläne

Mit dieser Einschätzung ist sie nicht allein. Die Pläne des Bundesrats kommen vielerorts schlecht an. Eine bessere Integration der Betroffenen durch die Kürzung der Sozialgelder zu fördern, sei «weltfremd und zynisch», findet die SP. Die Grünen sind zudem überzeugt, dass die Kürzung verfassungswidrig ist. Beide Parteien weisen zudem darauf hin, dass das Sparpotential mit rund drei Millionen Franken gering sei.

Auch von den Kantonen kommt Kritik. Die Konferenz der Sozialdirektorinnen und Sozialdirektoren (SODK) bemängelt insbesondere, dass der Bund damit in die Kernkompetenz der Kantone eingreife – denn diese sind für die Sozialhilfe zuständig. Auch Städte und Gemeinden warnen vor «Willkür-Entscheiden».

Einzig die SVP und die Mitte begrüssen das Massnahmenpaket. Laut SVP sei ein erheblicher Teil des Kostenanstiegs in der Sozialhilfe auf Personen mit Migrationshintergrund zurückzuführen. Die Mitte findet es richtig, dass bei Personen aus Drittstaaten ein tieferer Unterstützungsansatz bei der Sozialhilfe angewendet werde. Allerdings nur in den ersten drei Jahren.

Heks lanciert Petition

Dem Heks reicht das nicht. Es fordert das Parlament mit einer heute lancierten «Petition für gerechte Sozialhilfe» auf, «allen Menschen eine angemessene Unterstützung in Notlagen zu garantieren».

«Sozialhilfe wird als Instrument restriktiver Migrationspolitik missbraucht und kann die Aufgaben der Existenzsicherung und der sozialen Integration nicht mehr erfüllen», erklärt Evelyn Stokar, juristische Mitarbeiterin bei der Heks. «Sozialhilfe», sagt sie, «muss alle Menschen in der Schweiz auffangen.» Menschen wie die Familie Mohammed aus Wattwil. Bei Kürzungen wären nämlich vor allem die Kinder der Familien die Leidtragenden, so Tina Peschko.

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