Deshalb wollte Cassis die Läden früher öffnen
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Bundesrat erklärt Vorstoss:Deshalb wollte Cassis die Läden früher öffnen

Bundesrat erklärt seinen brisanten Vorstoss
Deshalb wollte Cassis die Läden früher öffnen

Aussenminister Ignazio Cassis hat zwei Corona-Fälle in der eigenen Familie zu beklagen. Im BLICK-Interview spricht er über die erfolgreiche Rückholaktion, die umstrittene Lockerungsstrategie des Bundesrats und die Zukunft des Rahmenabkommens mit der EU.
Publiziert: 24.04.2020 um 22:50 Uhr
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Aktualisiert: 01.09.2020 um 14:17 Uhr
Bundesrat Ignazio Cassis orchestrierte in der Corona-Krise die grösste Rückholaktion der Schweiz.
Foto: BENJAMIN SOLAND
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Interview: Ruedi Studer und Daniel Ballmer

Bundesrat Ignazio Cassis (59) empfängt BLICK im Bundeshaus West zum Interview. In den Gängen ist es deutlich ruhiger als sonst, viele Bundesangestellte arbeiten derzeit im Homeoffice. Der FDP-Aussenminister erhält von seinem Weibel einen Kaffee und einen giftfarbenen Smoothie serviert. Einen «Blauen Lenzer», wie der Weibel später verrät. Und schmunzelnd fügt er hinzu: «Blau wie die Farbe der FDP.»

BLICK: Herr Cassis, als Aussenminister haben Sie die grösste Rückholaktion der Schweizer Geschichte orchestriert. Ihre Bilanz?
Ignazio Cassis: Das war ein Stresstest für unser Krisenmanagement – und wir haben ihn bestanden. Die Operation ist gut gelaufen, die Zusammenarbeit mit unseren Nachbarländern hat funktioniert. 35 Flüge mit 7000 Passagieren. Insgesamt kostet die Aktion rund zehn Millionen Franken. Wir werden nun aber Rechnungen an alle Passagiere stellen und können damit 80 Prozent der Kosten abdecken.

Die Kostenbeteiligung beträgt je nach Flugstrecke 400 bis 1700 Franken. Eine Strafpauschale?
Nein, Dienstleistungen sind nicht gratis zu haben, das wussten die Leute. Die Repatriierung war freiwillig. Die Leute sind auch dankbar. Wir haben sehr viele schöne Rückmeldungen erhalten.

Doch wer jetzt noch im Ausland feststeckt, den lässt man im Stich?
Nein, niemand ist verloren. Es sind noch einige Hundert Touristen im Ausland, weil sie dort bleiben wollen oder nicht zurück können. Wir betreuen sie auf Wunsch weiterhin – und holen sie nach Möglichkeit zurück.

Die Schweizer sind ein reisefreudiges Volk. Können wir im Sommer schon wieder Auslandferien machen?
Wir werden die Grenzen in Absprache mit den Nachbarländern schrittweise öffnen. Aber seien wir ehrlich: Wann und wo wir wieder Auslandferien machen können, lässt sich noch nicht beantworten. Stand heute werden Auslandferien diesen Sommer nur begrenzt bis gar nicht möglich sein. Kommt hinzu, dass viele gar nicht reisen wollen, weil das Sicherheitsgefühl noch nicht zurück ist oder weil man angesichts der wirtschaftlichen Probleme lieber Geld beiseitelegt.

Haben Sie selbst Reisepläne?
Ich verbringe meine Sommerferien immer im Tessin. Was die beruflichen Reisen ins Ausland betrifft, wurde alles abgesagt. Ich habe mit meinen ausländischen Amtskollegen noch nie so viel per Telefon oder an Videokonferenzen besprochen wie jetzt. Statt stundenlang für kurze Treffen herumzureisen, kann man künftig öfter eine Videokonferenz durchführen. Aber klar bleiben persönliche Kontakte weiterhin wichtig.

Die Schweiz steckt seit sechs Wochen im Ausnahmezustand. Wie ist Ihre Befindlichkeit?
Manchmal etwas surreal! Da fragt man sich, in welche Welt man da geraten ist.

Ihr Bundesratskollege Guy Parmelin (60) hat Corona-Fälle in der eigenen Familie zu beklagen und sich deshalb testen lassen. Und Sie?
Im Tessin hat fast jeder jemanden in der Familie, der am Virus erkrankt ist. Auch in meiner Familie gab es bisher zwei Fälle – eine 90-jährige Tante ist daran gestorben. Ich selbst habe mich aber nicht testen lassen. Es gab keinen Grund dafür.

Die Lockerungsstrategie des Bundesrats ist stark umstritten. Sie stecken in der Zwickmühle: als Tessiner, dessen Kanton auf die Bremse steht – und als Freisinniger, dessen Partei aufs Gas drückt.
Ich befinde mich in einem Spannungsfeld. Entscheidend ist, dass wir die Epidemie im Griff und genügend Spitalkapazitäten haben. Dieses Ziel wurde mehr als erreicht.

Dann kann der Bundesrat mutiger sein!
Die Entwicklung ist zwar gut, aber wir müssen eine zweite Welle verhindern. Jeder Schritt birgt die Gefahr, dass wieder ein Virenherd entsteht. Ich bin hin- und hergerissen. Die Gesundheitskrise hat sich zu einer riesigen Wirtschaftskrise gewandelt. Jeden Tag eine halbe Milliarde Verlust, viele Leute werden wohl in die Arbeitslosigkeit geraten. Eine Wirtschaftskrise wandelt sich immer in eine soziale Krise, die wiederum Kranke und Tote zur Folge hat. Natürlich ist man deswegen versucht, etwas schneller zu lockern.

Sie haben im Bundesrat eine schnellere Gangart gefordert und wollten die Läden schon ab nächster Woche öffnen.
Über Bundesrats-Internas spreche ich natürlich nicht, aber der Bundesrat will eigentlich auch so schnell wie möglich lockern. Immer im Einklang mit dem bestmöglichen Schutz der Bevölkerung. Es geht hier um eine existenzielle Frage des Landes. Die Polemik um die Wettbewerbsverzerrungen wegen der Sortimentsbeschränkungen hat für Unsicherheit gesorgt. Für mich war klar: Wir müssen nochmals über die Bücher gehen und die Verlässlichkeit unseres Konzepts überprüfen. Deshalb habe ich eine frühere Lockerung um ein, zwei Wochen zur Debatte gestellt. Wir haben das nochmals geprüft und gesehen: Das geht nicht. Damit kann ich leben.

Mit dem Resultat, dass man sogar noch einen Schritt zurück gemacht hat.
Wir haben die Frage intensiv diskutiert. Die geringfügige Lockerung im Detailhandel hat eine grosse Debatte um Wettbewerbsaspekte verursacht. Wir wollen zwar wirtschaftliche Schäden vermindern, aber Lösungen müssen praktikabel sein. Deshalb hat man gesagt: Hände weg bis 11. Mai. Am Ende wird nur das Resultat zeigen, ob die Lösung gut war.

Als Mediziner und ehemaliger Kantonsarzt wären Sie dafür prädestiniert, im Bundesrat die Führung zu übernehmen. Wie sehr hört das Kollegium auf Sie?
Schon aufmerksam. Bei technischen Ausführungen haben mich die Kolleginnen und Kollegen im Bundesrat aber manchmal komisch angeschaut. Ich konnte meine Kompetenzen jedoch immer einbringen.

Gegen aussen hat man Sie bisher kaum wahrgenommen.
Das ist funktionsgebunden. Ich bin Aussen- und nicht Gesundheitsminister. Es zählt nicht der ursprüngliche Beruf. Sonst müsste Simonetta Sommaruga als ehemalige Pianistin Kulturministerin sein. Aber im Kollegium können wir alle unser persönliches Wissen einbringen.

Was die Vorbereitung angeht, scheint aber einiger Nachholbedarf zu bestehen. Trotz Pandemieplänen fehlten etwa Schutzmasken und anderes Material.
Die Infektionskurve zeigt, dass wir bereit waren und die Situation gut gemanagt haben. Wenn ich sehe, was in anderen Ländern passiert, könnten wir ein Lehrbuch schreiben. Das heisst aber nicht, dass keine Verbesserungen möglich sind.

Welche Lehren kann man jetzt schon ziehen?
Es hat sich gezeigt, wie wichtig Notvorräte von Sanitätsmaterial sind. Vor allem aber braucht es eine klare Führung. Die besten Pandemiepläne nützen nichts, wenn man nicht zielgerichtet und klar führt. Man muss dann aber auch möglichst rasch wieder zurück zur Normalität finden. Sonst könnte der Chef plötzlich Freude daran bekommen, Chef zu sein.

Aber es ist schon angenehm, Entscheide fällen zu können, ohne jedes Mal das Parlament zu fragen, oder?
Natürlich. Aber wir wissen, dass später die Rechnung dafür kommt. Wäre das nicht so: perfekt! (lacht) Nein, das entspricht gar nicht unserer Kultur und auch nicht meinen Vorstellungen. Wir sind in der Schweiz basisdemokratisch geprägt. Ich bin froh, dass das Parlament bald wieder tagt.

Man musste während der Krise zeitweise auch beobachten, wie jeder Staat vor allem für sich geschaut hat. Befürchten Sie eine Rückkehr zum Nationalismus?
Hamsterkäufe sind normal. Der Mensch ist ein Säugetier: Ist sein Leben bedroht, nützen die Jahrtausende Zivilisation nichts mehr. In jeder Krise schliesst eine Menschengruppe ihre Reihen. Das ist normal.

Kann das bleibende Folgen haben für einen Staatenbund wie die EU?
Gerade dazu habe ich eine Analyse in Auftrag gegeben: Welche Folgen dürfte die Krise haben auf die EU und entsprechend auf die Beziehungen zur Schweiz?

Vor der Krise war die Europapolitik mit dem Rahmenabkommen das drängendste Dossier im Aussendepartement. Welche Folgen sind hier zu erwarten?
Das ist derzeit schlicht nicht prioritär. Jetzt geht es darum, Leben zu retten und wirtschaftlich katastrophale Folgen zu verhindern. Das kann noch einige Zeit dauern. Das Rahmenabkommen wird vielleicht im Herbst oder Anfang 2021 wieder ein Thema.

Auch in diesen Zeiten vergisst die Schweiz ihre humanitäre Tradition nicht. Die Aussenpolitische Kommission des Nationalrats (APK) will für humanitäre Hilfe zusätzlich 100 Millionen Franken. Wie stehen Sie dazu?
Wir sind an einem Gesamtkonzept, das in den nächsten Tagen erarbeitet wird. In der Entwicklungshilfe haben wir gewisse Projekte gestoppt, somit steht etwas Geld zur Verfügung für humanitäre Zwecke. Wir sind bereit zu helfen. Es könnten auch etwas mehr als die geforderten 100 Millionen sein.

Heisst: Die APK rennt bei Ihnen offene Türen ein?
Im Grundsatz, ja. Das gehört zu unserer internationalen Solidarität. Wir müssen nun aber genau prüfen, was möglich ist. Auch wenn ich die Ungeduld verstehe: Wir können aber nicht unkoordiniert ein Wunschkonzert veranstalten.

Mediziner im Bundesrat

Ignazio Cassis kam 1961 in Sessa TI zur Welt. Der Arzt wurde 2007 in den Nationalrat gewählt und präsidierte ab 2015 die FDP-Bundeshausfraktion. Am 20. September 2017 wählte ihn die Vereinigte Bundesversammlung in den Bundesrat. Cassis steht zwar dem Eidgenössischen Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) vor. Doch seine medizinische Ausbildung hilft ihm jetzt in der Corona-Krise.

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Gerade in der Grippesaison kann man selber nur schwer einschätzen, ob man am Coronavirus erkrankt ist oder ob man einfach eine gewöhnliche Grippe hat. Die Unterschiede sind fein, aber es gibt sie. Blick klärt auf.

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Schutz gegen Coronavirus

Empfehlungen des Bundesamtes für Gesundheit, wie Sie sich selbst schützen können:

Hygienemassnahmen

  • Hände regelmässig mit Wasser und Seife waschen und/oder Desinfektionsmittel nutzen.
  • Nicht in Hände niesen oder husten, sondern Taschentuch oder Armbeuge nutzen. Taschentücher anschliessend sofort korrekt in geschlossenem Abfalleimer entsorgen.
  • Bei Fieber und Husten zwingend zu Hause bleiben.

Kontakt minimieren

  • Zu Hause blieben und Kontakte mit Personen möglichst minimieren. Nur in Ausnahmesituationen aus dem Haus gehen: Lebensmittel einkaufen / Arzt- oder Apothekenbesuch / Homeoffice ist für Ihre Arbeit nicht möglich / Sie müssen anderen Menschen helfen. Kontakt mit Personen vermeiden, die Atembeschwerden oder Husten haben.
  • Wichtig: Keine Begrüssungsküsschen, keine Umarmungen, kein Händeschütteln.
  • 2 Meter Abstand zu Mitmenschen halten, beispielsweise beim Anstehen oder bei Sitzungen.
  • Öffentliche Verkehrsmittel meiden und Lieferdienste nutzen.
  • Bei Symptomen (Atembeschwerden, Husten oder Fieber) nicht in die Öffentlichkeit gehen und umgehend – unbedingt zuerst telefonisch – eine Ärztin, einen Arzt oder eine Gesundheitseinrichtung kontaktieren.

Informiert bleiben

  • An die Regeln und Ansagen der Behörden halten. Infoline Coronavirus: 058 463 00 00, Info-Seite des BAG: bag-coronavirus.ch

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  • Bei Fieber und Husten zwingend zu Hause bleiben.

Kontakt minimieren

  • Zu Hause blieben und Kontakte mit Personen möglichst minimieren. Nur in Ausnahmesituationen aus dem Haus gehen: Lebensmittel einkaufen / Arzt- oder Apothekenbesuch / Homeoffice ist für Ihre Arbeit nicht möglich / Sie müssen anderen Menschen helfen. Kontakt mit Personen vermeiden, die Atembeschwerden oder Husten haben.
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  • Bei Symptomen (Atembeschwerden, Husten oder Fieber) nicht in die Öffentlichkeit gehen und umgehend – unbedingt zuerst telefonisch – eine Ärztin, einen Arzt oder eine Gesundheitseinrichtung kontaktieren.

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  • An die Regeln und Ansagen der Behörden halten. Infoline Coronavirus: 058 463 00 00, Info-Seite des BAG: bag-coronavirus.ch
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