«Keine Berufsarmee mobilisiert schneller als unsere»
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Bundesrätin Viola Amherd:«Keine Berufsarmee mobilisiert schneller als unsere»

Bundesrätin Viola Amherd im grossen Interview
«Keine Berufsarmee mobilisiert schneller als unsere»

Erstmals seit der Mobilmachung von 5000 Soldaten äussert sich Verteidigungsministerin Viola Amherd. Sie erklärt, warum eine Milizarmee im Ernstfall besser ist als eine Berufsarmee – und sie macht allen Mut, die jetzt im Dienst sind.
Publiziert: 03.04.2020 um 23:05 Uhr
|
Aktualisiert: 26.09.2020 um 22:33 Uhr
Christian Dorer (Interview) und Philippe Rossier (Fotos)

Bundesrätin Viola Amherd (57) führt das Verteidigungsdepartement erst seit etwas mehr als einem Jahr und verantwortet jetzt die erste Mobilmachung seit dem Zweiten Weltkrieg! Am Donnerstagmorgen besucht sie das Sanitätszentrum der Armee in Ittigen bei Bern und lässt sich über die Lage informieren.

Der Fussboden der Einsatzzentrale besteht aus einer 9 Meter mal 6 Meter grossen Schweizer Karte (Massstab 1:50'000), darauf stehen in Form von Holzklötzen alle Truppen an ihren Einsatzorten – derzeit rund 5000 Armeeangehörige, die das Personal in Spitälern, der Logistik und an der Grenze unterstützen.

Im gleichen Gebäude ist die Armeeapotheke untergebracht: Hier werden Masken, Desinfektionsmittel, aber auch die dringend benötigten Beatmungsgeräte angeliefert, verpackt und dort hingebracht, wo sie am dringendsten gebraucht werden.

Sie führt das Militär: Viola Amherd (57).
Foto: Philippe Rossier
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BLICK: Frau Bundesrätin, was ist Ihre Botschaft an alle Soldaten?
Viola Amherd: Ich bin allen Armeeangehörigen enorm dankbar! Sie leisten ihren Einsatz mit grosser Motivation. Das ist nicht einfach: Viele wurden von einem Tag auf den anderen aus dem Alltag gerissen und mussten Arbeitsplatz, Familie und Freunde verlassen.

Wie wissen Sie aus erster Hand, was an der Front läuft?
Oft schreiben mir Soldaten direkt per Mail oder über Twitter. Aber auch von der Bevölkerung und aus den Kantonen erhalte ich viele Rückmeldungen zum Armee-Einsatz, und zwar durchwegs positive. Das zeigt: Die Armee ist da, wenn man sie braucht!

5000 Soldaten stehen aktuell im Einsatz, der Bundesrat hat 8000 bewilligt. Wird das reichen?
Das hängt davon ab, ob die Massnahmen zur Eindämmung des Coronavirus wirken. Die Bevölkerung kann einen grossen Beitrag dazu leisten: Es ist ganz wichtig, dass alle auch beim schönen Wochenendwetter zu Hause bleiben!

Man beobachtet das Gegenteil: Auf den Strassen gibt es wieder mehr Verkehr, die Leute gehen spazieren ...
Auch ich wäre bei schönem Wetter gerne draussen in der Natur. Aber wenn wir jetzt lockerlassen, steigen die Ansteckungen wieder exponentiell an. Deshalb appelliere ich an alle: Haltet euch an die Massnahmen des Bundesamtes für Gesundheit! Sonst nützen sie nichts. Man gewöhnt sich an eine Krise. Plötzlich hat man das Gefühl, dass es vielleicht ja doch nicht so schlimm ist. Die Situation bleibt aber sehr ernst.

Es ist auch nicht so schlimm wie in Italien oder Spanien.
Gott sei Dank! Damit das so bleibt, braucht es jetzt die Disziplin von allen.

Werden die Einschränkungen nach dem 19. April gelockert?
Diese Prognose kann ich nicht machen. Wir schauen Tag für Tag. Zuerst müssen wir konsequent bleiben und die Massnahmen durchziehen, auch über Ostern.

Was macht der Bundesrat, wenn der Appell ungehört verhallt?

Mehr als ein Appell wäre Zwang, aber das ist nicht im Interesse des Bundesrates. Wir sind der Überzeugung, dass die Leute den Sinn der Massnahmen verstehen müssen. Das ist mehr wert, als wenn man mit dem Hammer kommt.

Man hört, Sie seien im Bundesrat für eine Ausgangssperre gewesen.
Ich sage nicht, was wir in der Bundesratssitzung diskutiert haben. Für mich ist entscheidend, dass die Ansteckungskurve abflacht. Alles ist gut, was über freiwillige Massnahmen funktioniert. Sollte das nicht reichen, müssen wir nochmals über die Bücher. Ich hoffe aber wirklich, dass die Bevölkerung vernünftig ist.

Wie schützen Sie sich selber vor einer Ansteckung?
Ich halte die Abstands- und Hygieneregeln ein und gehe sehr wenig hinaus. Die meisten meiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind im Homeoffice, auf meinem Stockwerk im Bundeshaus Ost arbeiten noch fünf, sechs Leute. Am Wochenende halte ich mich fast immer zu Hause auf und gehe höchstens mal an einem abgelegenen Ort frische Luft tanken.

Die Armee hat soeben die grösste Mobilmachung seit dem Zweiten Weltkrieg durchgeführt. Wie hat das geklappt?
Ausgezeichnet – und besser, als manche erwartet hätten. Wir haben per SMS aufgeboten, und innert 24 Stunden haben sich bereits 80 Prozent gemeldet. Das ist extrem viel!

Was passiert mit den anderen?
Wir gehen jedem einzelnen Fall nach. Vielleicht war jemand krank, weilt im Ausland oder hat einen anderen triftigen Grund. Alle anderen bekommen eine zweite Chance, einzurücken. Wenn sie auch dann nicht kommen, übergeben wir die Dossiers der Militärjustiz.

Gewerbeverbandsdirektor Hans-Ulrich Bigler ist verärgert, weil die Wirtschaft nicht in die Mobilmachung einbezogen wurde.
Wir haben eine Krisensituation, bei der es um Menschenleben geht. Da handelten wir so schnell wie möglich. Wenn jemand einen Marschbefehl erhält, so gehe ich davon aus, dass er seinen Arbeitgeber informiert. Das haben wir vielleicht unterschätzt. Die Armee ist jetzt daran, die Arbeitgeber alle anzuschreiben. Und natürlich ziehen wir daraus Lehren für die Zukunft.

Bietet die Armee jetzt vor allem Soldaten auf, die in Kurzarbeit stehen?
Das wäre zu kompliziert. Wir brauchen Truppen, die funktionieren, und nicht ein Konglomerat von zusammengewürfelten Leuten. Es haben sich auch rund 3000 Freiwillige gemeldet – grossartig, dass sich so viele Personen solidarisch zeigen. Leider können wir nicht alle einsetzen und bitten sie, sich bei den kantonalen Stäben zu melden.

Wie werden die Diensttage angerechnet?
Wer jetzt Dienst leistet, muss dieses Jahr sicher keinen WK mehr machen. Aber wir können nicht sämtliche Diensttage anrechnen. Sonst könnten wir möglicherweise bei der nächsten Pandemiewelle oder im Ereignisfall keine Unterstützung mehr leisten.

Wir haben eine der letzten Milizarmeen in Europa. Ist das jetzt im Ernstfall ein Vor- oder ein Nachteil?
Ich sehe nur Vorteile. Keine Berufsarmee kann schneller mobilisieren als unsere. Jetzt haben wir bewiesen, wie gut das funktioniert. Eine weitere Stärke sind die Vorkenntnisse unserer Leute aus dem Zivilen. Das ist Gold wert, weil wir sie dann einsetzen können, wo und wann wir sie benötigen.

Viele Soldaten machen im Zivilen aber auch was ganz anderes. Können die jetzt plötzlich in einem Spital arbeiten?
Wir stellen ja nicht jemanden direkt aus dem Büro oder aus der Metzgerei ins Spital. Die Soldaten werden aufgeboten, dann wird ihre militärische Ausbildung aufgefrischt, und erst dann kommen sie in den Einsatz.

Die Soldaten dürfen bis auf wenige Ausnahmen nicht nach Hause. Wie lange lässt sich dies aufrechterhalten?
Das ist tatsächlich schwierig, geht aber im Moment leider nicht anders. Die Gefahr wäre zu gross, dass jemand das Virus aus der Kaserne nach Hause oder von zu Hause in die Kaserne trägt. Wir haben aber kein Interesse daran, die Leute unnötig lange im Dienst zu behalten. Sobald eine Lockerung möglich ist, setzen wir diese sofort um. Es sind nun wieder persönliche Urlaube möglich, zum Beispiel wenn jemand in seinem familiären oder beruflichen Umfeld etwas Dringendes zu erledigen hat.

Gibt es wenigstens etwas Abwechslung in den Kasernen?
An gewissen Orten wurde ein Kino eingerichtet. Sport ist möglich, aber natürlich nicht Schwingen (lacht). Sondern alles ohne Körperkontakt, Joggen zum Beispiel.

Wie gross ist die Gefahr von Massenansteckungen in den Kasernen?
Wir kehren alles vor, damit dies nicht passiert. Es gibt vielleicht Situationen, in denen die Zwei-Meter-Abstandsregel nicht eingehalten werden kann. Davon sind alle Einsatzkräfte betroffen, also auch die Polizei oder die Sanität. Da wird mit Hygienemasken gearbeitet. Trotz aller Massnahmen können wir Ansteckungen nicht zu hundert Prozent ausschliessen.

Zeigt sich jetzt, dass die Armee mehr Sanitäter und weniger Infanteristen und Artilleristen braucht?
Das wäre zu kurz gedacht. Denn wer hätte vor zwei Monaten gedacht, dass die Armee heute für eine Bekämpfung einer Pandemie im Einsatz stehen wird? Niemand! Die nächste Krise wird vielleicht eine andere sein. Deshalb muss die Armee für alle Eventualitäten bereit sein.

Kaum jemand wird in der aktuellen Lage den Sinn der Armee bestreiten: Sie haben die Kampfjet-Abstimmung schon gewonnen!
Leider nicht. Vielleicht kommt eben dieses falsche Argument, dass wir Sanitäter brauchen und keine Flieger. Ich werde der Bevölkerung aufzeigen, dass die Flieger für die Gewährleistung der Sicherheit wichtig sind. Sie sind keine Spielzeuge für Piloten und auch keine Prestigeobjekte. Sondern zwingend notwendig, um Luftpolizeidienst auszuführen und um gegen terroristische Anschläge aus der Luft vorbereitet zu sein, damit die Bevölkerung geschützt ist.

Frau Bundesrätin, wie sieht Ihr Alltag derzeit aus?
Ich werde täglich mehrmals über die aktuelle Lage informiert und bin rund um die Uhr erreichbar, falls ein Entscheid gefällt werden muss. Innerhalb des Bundesratskollegiums haben wir jetzt viel mehr Kontakt, führen auch zwischen den Bundesratssitzungen viele Gespräche und haben mehrere Sitzungen pro Woche. Wir müssen sehr kurzfristig arbeiten, da die ordentlichen Fristen für Unterlagen und Mitberichte im Moment nicht eingehalten werden können. Es kommt vor, dass wir die letzten Dossiers für eine morgendliche Sitzung am Vorabend um 23 Uhr erhalten.

Wieso trifft sich der Bundesrat noch physisch?
Innerhalb des Departements arbeiten wir viel mit Videotelefonkonferenzen, und ich bin positiv überrascht, wie gut das funktioniert. Im Bundesrat aber haben wir derart schwierige Fragen zu diskutieren, dass es von Vorteil ist, wenn man sich sieht. Wir halten die Distanzregeln ein.

Geht das im Bundesratszimmer?
Ja, die Pulte wurden auseinandergeschoben. Wir sind jetzt wortwörtlich an die Wand gedrückt (lacht).

Die erste Verteidigungsministerin

Viola Amherd (59) wuchs in Brig VS auf, wo sie heute noch wohnt. Sie arbeitete als selbständige Advokatin und Notarin, war Stadtpräsidentin und langjährige CVP-Nationalrätin. Seit Anfang 2019 ist sie Bundesrätin und die erste Verteidigungsministerin der Schweiz. Sie ist ledig und wohnt im selben Haus wie ihre Schwester und ihre Nichte.

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Die grosse BLICK-Serie «Mission Corona – die Armee im Einsatz» können Sie ab Montag und bis zum Ostersamstag täglich im BLICK und auf Blick.ch lesen und auf Blick TV verfolgen.

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