Bundespräsidentin Doris Leuthard will Europa-Abstimmung
«Wir müssen unser Verhältnis zur EU klären»

Doris Leuthards grosses Ziel als Bundespräsidentin war die Normalisierung der Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU. Dieses Ziel hat sie verfehlt. Im Gespräch erklärt sie, was sie für die Zukunft erwartet.
Publiziert: 24.12.2017 um 00:03 Uhr
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Aktualisiert: 12.09.2018 um 16:50 Uhr
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Brüssel macht Druck, damit es mit dem Rahmenabkommen vorwärtsgeht und greift dabei zu unfreundlichen Mitteln. In Bundesbern brennt der Baum. Nichtsdestotrotz findet Doris Leuthard diese Woche Zeit für ein Interview mit SonntagsBlick. Sie empfängt im grünen Salon ihres Departements an der Berner Kochergasse. Das Gespräch ist ein Rückblick über ihr Präsidialjahr, ein Stück weit aber auch eine Bilanz ihrer elf Jahre in der Landesregierung. Die jüngsten Verwerfungen mit Brüssel stehen aber zwangsläufig im Mittelpunkt.

SonntagsBlick: Frau Bundespräsidentin, Ihr Präsidialjahr wird vom Entscheid der EU, die Schweizer Börse nur befristet für den Handel zuzulassen, komplett verhagelt.
Doris Leuthard: Keineswegs, wir haben nach drei Jahren Funkstille wichtige Dossiers wie die technischen Handelshemmnisse, die blockiert waren, vorangebracht. Aber natürlich stehen jetzt die Differenzen mit Brüssel im Fokus. Hier ist unsere Haltung klar: Dass die EU ein so technisches Dossier wie die Börsenäquivalenz mit einer politischen Frage verknüpft, mit dem Rahmenabkommen, das geht nicht. Ein solches Machtspiel akzeptieren wir nicht! Es gehört halt aber zur Politik, das müssen wir aushalten.

Und das reicht?
Der jüngste Vorfall zeigt: Wir müssen unser Engagement ausbauen, um bei den einzelnen EU-Ländern und in Brüssel stärker für unsere Interessen Gehör zu verschaffen.

Was genau steckt hinter dem jüngsten Krach mit Brüssel?
Gewisse EU-Länder werfen uns in den gleichen Topf mit Grossbritannien und möchten ein Exempel statuieren. Andere Staaten wollen verhindern, dass unser Finanzplatz gestärkt wird. Wiederum andere finden, wir seien Rosinenpicker, die zu stark vom Binnenmarkt Europa profitieren. Sie wollen Druck für ein Rahmenabkommen aufbauen. Das alles macht die Situation schwierig. Wir legen unsere Interessen sachlich und selbstbewusst dar. Und wir weisen darauf hin, dass es nicht zu einem guten Klima in der Schweiz beiträgt, wenn es Druck zum Rahmenabkommen oder den Kohäsionsbeitrag gibt.

Sie sprechen von «gewissen Ländern», die gegen die Schweiz arbeiten. Wer genau sind die Bösen?
Gute Frage! Das ist auch für uns spannend. Auf Stufe der Aussenminister wird der Schweiz immer viel Verständnis entgegengebracht. Genauso ist es unter den Präsidenten. Tiefer in den Stäben werden dann aber andere Töne angeschlagen. Im Bereich der Finanzen war der bisherige deutsche Finanzminister Wolfgang Schäuble immer ein sehr verlässlicher Partner. Er fehlt uns derzeit.

Unser Wohl und Weh in der EU wird von einzelnen Personen bestimmt?
Natürlich nicht allein, aber die Stimme von Wolfgang Schäuble hatte Gewicht.

Mit Schäuble wäre die Situation heute anders?
Andere, jüngere Minister kennen die Schweiz schlecht und haben darum weniger Verständnis für unsere Situation, die direktdemokratischen Prozesse und den bilateralen Weg. Wir müssen uns gegen aussen mehr anstrengen und erklären. Gleichzeitig ist es im Land selber nicht einfacher geworden. Innenpolitisch wird ein Rahmenabkommen mit wenig Begeisterung aufgenommen. Gleiches gilt für den Kohäsionsbeitrag. Der Bundesrat ist gefordert und muss viel Überzeugungsarbeit leisten – nach aussen, wie nach innen.

Der neue Aussenminister Ignazio Cassis plant, ein neues Staatssekretariat für Europafragen zu installieren. Denken Sie auch in diese Richtung?
Ignazio Cassis hat dem Bundesrat entsprechende Ideen informell vorgestellt. Das muss jetzt aber erst einmal er selber entscheiden, was er in die Tat umsetzen will.

Eine notorische Schwachstelle in der Aussenpolitik ist, dass das Bundespräsidium jährlich wechselt.
Für die Aussenpolitik ist der jährliche Wechsel des Präsidiums in der Tat ein grosser Nachteil, da vertrauensvolle Kontakte aussenpolitisch eine wichtige Rolle spielen. Wenn man einen Staatschef persönlich treffen kann, erreicht man ein ganz anderes, menschliches Niveau. Viele Staaten sind nun einmal sehr hierarchisch organisiert, da würde mehr Kontinuität auch bei uns guttun. Mit dem jährlichen Wechsel sind sie nicht vertraut.

Sie stehen derzeit in der Kritik. Der Vorwurf: Sie haben die Kohäsionsmilliarde zu früh angeboten – und damit das einzige Pfand aus der Hand gegeben.
Wir haben die Kohäsionsmilliarde nicht gesprochen, sondern lediglich den Prozess der Vernehmlassung bis im März eingeleitet – sofern unsere Erwartungen erfüllt werden.

Sie werden die Kohäsionsmilliarde also noch stoppen?
Der Bundesrat kann frei entscheiden. Wir können den Prozess auch entschleunigen. Lassen Sie uns schauen, was bis März noch alles passiert. Dann wird der Bundesrat entscheiden. Vorerst ist unsere Reaktion auf die befristete Erteilung der Börsenäquivalenz, dass wir den Finanzplatz stärken, etwa durch die Abschaffung der Stempelabgabe. Das ist eine viel souveränere Reaktion.

Braucht es einen Reset-Knopf, wie Ignazio Cassis vor seiner Wahl in den Bundesrat gesagt hat?
Beim Rahmenabkommen ist die Stimmung innenpolitisch vergiftet. Es wird das Gefühl heraufbeschworen, dass fremde Mächte über die Schweiz herrschten. Dass Bundesrat Cassis hier innenpolitisch eine Anpassung prüft, liegt auf der Hand.

Und generell: Wie gehts weiter mit der Schweiz und der EU?
Der bilaterale Weg ist wichtig und weiterzuentwickeln, um ihn zu sichern. Wir müssen unser Verhältnis zu Europa daher klären! Wir müssen wissen, in welche Richtung wir gehen. Dazu wäre eine grundlegende Abstimmung hilfreich.

Warum werden Sie eine solche Abstimmung gewinnen?
Ich verstehe die Skepsis gegenüber der EU. Die Union macht vieles nicht optimal. Und trotzdem gibt es keine Alternative: Zwei Drittel unseres Handelsvolumens wird mit der EU erwirtschaftet. Da können wir die Zusammenarbeit mit Indien und China noch so stärken, die EU bleibt zentral. Wir brauchen einen Mechanismus und geregelte Verhältnisse mit der EU. Das würde auch solche politischen Spiele verhindern, wie wir sie im Moment erleben.

Die Gelegenheit für eine Abstimmung kommt bald. Da gibt es die sogenannte Selbstbestimmungsinitiative der SVP. Auch das Rahmenabkommen würde vors Volks kommen.
Ich hoffe, dass es vorwärtsgeht mit der Klärung der offenen Fragen. Es wäre von Vorteil, wenn wir das Grundgerüst mit der aktuellen EU-Kommission verabschieden könnten. Jean-Claude Juncker ist noch bis 2019 im Amt. Wir müssen den Menschen in der Schweiz zudem erklären, was der Sinn der mit dem Rahmenabkommen beabsichtigten Weiterentwicklung ist.

Wie wird der Bundesrat die Köpfe und Herzen des Stimmvolks gewinnen?
Wir wollen den bilateralen Weg weiterverfolgen und sichern. Deshalb müssen wir klären, wie es sich mit neu erlassenen EU-Richtlinien verhält und welche Verfahren zum Zug kommen, wenn man sich nicht einig ist. Wir müssen uns auch wehren können: Es bringt für beide Seiten mehr Rechtssicherheit.

Da sind wir bei den sogenannten fremden Richtern. Wie sollen Streitfälle entschieden werden?
Das ist Gegenstand unserer Verhandlungen mit der EU. Ein Ziel könnte beispielsweise sein, dass die Schweiz in Streitfällen bei Marktfragen jeweils ein Mitglied in einem Schiedsgericht stellt.

Wieso sind Sie eigentlich nicht Aussenministerin geworden?
Dafür müsste ich noch mindestens eine Legislatur anhängen (lacht). Bei einem Departementswechsel braucht es mindestens ein Jahr, bis man im Dossier ist. Ich bin nun im zwölften Jahr als Bundesrätin. Beim heutigen Tempo, bei solch komplexen Themen – das braucht viel Energie! Nebenbei gibt es in meinem Departement alle paar Monate einen Abstimmungskampf. Kurz: Für mich ist es gut so, wie es ist. Und Herr Cassis wird das gut machen.

Das Bundesratsamt ist aber vor allem reizvoll ...
Bundesrat zu sein, ist eine ehrenvolle Aufgabe. Man kann gestalten. Aber gleichzeitig ist man stark der Öffentlichkeit ausgesetzt. Jedes Wort wird auf die Waage gelegt. Jeder Bundesrat muss viel Kritik, ob berechtigt oder nicht, einstecken können.

Und was ist Ihr Rezept, um alle Apéros und Essen unbeschadet zu überstehen?
Also das Vorurteil mit den Apéros ist falsch. Zur Arbeit im Bundesrat: Wir haben im Gremium eine gute Stimmung. Bereits das ganze Jahr und neu auch mit Herr Cassis. Die Institution Bundesrat funktioniert. Wir lassen uns gegenseitig nicht im Stich. Wir bringen natürlich alle unsere Positionen ein, suchen dann aber gemeinsam einen Konsens. Zudem habe ich gute Direktoren. Und die Abstimmungen über den National-strassen- und Agglomerationsverkehrs-Fonds und die Energiestrategie sind erfolgreich verlaufen. Das motiviert mich.

Und wie geht das mit dem persönlichen Energiehaushalt?
Ferien gibt es nie genug (lacht). Für mich persönlich spielen die Natur und Bewegung eine grosse Rolle. Auch der Schlaf ist wichtig. Sonst stehe ich das Pensum nicht durch. Ich brauche auch den Austausch mit meinen Freunden. Auch wenn man sich nur alle paar Monate sieht, gibt mir das viel.

Es braucht wohl aber auch eine Teflonschicht. Wie eignet man sich diese an?
Eine dicke Haut braucht es, ja, auch wegen der starken Personalisierung der Themen. So heisst es etwa, die Leuthard habe die Kohäsionszahlung zur Debatte gebracht, als ob dahinter nicht Entscheide des ganzen Kollegiums stünden. Ein zu starker Panzer jedoch ist nicht gut, es braucht auch Empathie in diesem Amt.

Als Bundesrätin werden Sie überall umworben und geehrt. Und als Bundespräsidentin noch viel mehr. Was haben Sie getan, um auf dem Boden zu bleiben?
In der Schweiz kennen wir keinen Pomp, und das ist gut so. Natürlich gibt es glamouröse Staatsempfänge, wie der Staatsbesuch in Indien. In der Schweiz diskutieren wir über jeden Franken – da staunt man, woher das Geld für solche Staatsbesuche kommt. Unser System sorgt dafür, dass niemand abhebt.

Haben Sie sich verändert im Amt?
Natürlich verändert man sich mit dem Alter und der Erfahrung. Der Blickwinkel ändert sich. Ich sehe immer das Positive im Menschen, bleibe eine Optimistin. Es gibt indes Strömungen, die mir zu denken geben. Die Respektlosigkeit hat zugenommen. Schauen Sie auf die Social Media, was da geschrieben wird! In dieser Debatte finde ich mich nicht wieder.

Natürlich verändert man sich mit dem Alter und der Erfahrung: Doris Leuthard
Foto: Thomas Meier

Wie konsumieren Sie die neuen Medien?
Auf Twitter bin ich nicht, mir fehlt die Zeit dafür. Zudem würde mir die teils rüpelhafte Art wohl etwas das Weltbild ins Wanken bringen, das will ich nicht. Allein, was ich manchmal für E-Mails erhalte, sagt mir, wie sehr sich der Ton verschoben hat.

Inwiefern?
Viele Leute lassen in E-Mails ihren Emotionen freien Lauf. Einen Brief schreibt man bewusster. Wer mir ein Mail schreibt, hat zudem wohl das Gefühl, diese landeten irgendwo im Nirvana. Dabei reagiere ich oft auf E-Mails – das sorgt dann oft für erstaunte Reaktionen.

Radikaler sind auch die Volksinitiativen geworden. Und diese Initiativen haben auch Chancen beim Stimmvolk. Woher kommt diese Entwicklung?
Es ist einfacher geworden, eine Initiative zu lancieren. Viele Anliegen gehören aber nicht in die Verfassung. Initianten haben oft ein berechtigtes Anliegen, es fehlt ihnen allerdings das entsprechende Gefäss. Wir müssten darum ein neues Gefäss schaffen für Volksanliegen.

Sie denken an eine Gesetzes-initiative?
Genau. Oft werfen Menschen wichtige Fragen auf, können heute aber nur via Initiative Druck machen. Mit einer Gesetzesinitiative könnten sie ihre Anregungen in das Parlament einbringen und dieses müsste die Vorlage behandeln. So gäbe es möglicherweise auch weniger radikale Anliegen.

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