Bundeskanzler Walter Thurnherr im grossen Interview
«Improvisation gehört bei jeder Krise dazu»

Als Stabschef der Regierung ist Bundeskanzler Walter Thurnherr (56) nah am Bundesrat wie niemand. Im ersten Interview seit Ausbruch der Corona-Krise erzählt er, wie der Bundesrat im Krisenmodus funktioniert – und welche Lehren zu ziehen sind.
Publiziert: 26.05.2020 um 23:23 Uhr
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Aktualisiert: 27.05.2020 um 19:20 Uhr
Walter Thurnherr (56) ist seit 1. Januar 2016 Schweizer Bundeskanzler.
Foto: Keystone
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Interview: Christian Dorer

Sie schrieben mir auf die Neujahrskarte: «Geniesse die Ruhe vor dem Sturm, es dürften andere Zeiten kommen, leider!» Haben Sie hellseherische Fähigkeiten?
Walter Thurnherr:
Es ging uns über sehr lange Zeit sehr gut, und es hätte mich erstaunt, wenn es noch lange so positiv weitergegangen wäre. Für mich lag etwas in der Luft, aber ich dachte eher an internationale und wirtschaftliche Entwicklungen, nicht in erster Linie an eine Pandemie.

Eine Pandemie war in allen Szenarien des Bundes enthalten. Warum hat trotzdem niemand ernsthaft damit gerechnet?
Bereits vor über zehn Jahren stand in den Risikoberichten, dass eine Pandemie kommen werde, die Frage sei nur, wann. Paradoxerweise sind es oft die wahrscheinlichen Ereignisse – über die man derart häufig spricht, bis man sich daran gewöhnt hat –, die alle überraschen, wenn sie dann tatsächlich eintreffen. Viele dachten, Epidemien können vorkommen, aber wahrscheinlich tun sie das anderswo.

Diplomat in Moskau

Walter Thurnherr (56) wuchs in Wohlen AG auf und studierte theoretische Physik an der ETH Zürich. Vor seiner Wahl zum Bundeskanzler im Dezember 2015 war der CVP-Mann zuerst Diplomat (unter anderem in Moskau) sowie in drei verschiedenen Departementen Generalsekretär: im Aussendepartement (EDA), im Volkswirtschaftsdepartement und im Departement Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation (Uvek). Er lebt zusammen mit seiner Frau und seinen zwei Kindern in Sigriswil BE am Thunersee.

Walter Thurnherr (56) wuchs in Wohlen AG auf und studierte theoretische Physik an der ETH Zürich. Vor seiner Wahl zum Bundeskanzler im Dezember 2015 war der CVP-Mann zuerst Diplomat (unter anderem in Moskau) sowie in drei verschiedenen Departementen Generalsekretär: im Aussendepartement (EDA), im Volkswirtschaftsdepartement und im Departement Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation (Uvek). Er lebt zusammen mit seiner Frau und seinen zwei Kindern in Sigriswil BE am Thunersee.

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Sie sind der Stabschef des Bundesrats. Wie hat sich die Arbeit der Regierung verändert?
Die Arbeit war eigentlich dieselbe, einfach viel intensiver. Normalerweise gibt es pro Geschäft einen Vorlauf von rund drei Wochen. Von Mitte März bis Anfang Mai war das anders: Wir nahmen die Geschäfte bis Mitternacht entgegen, prüften und übersetzten sie, die Stäbe aller Departemente und der Bundeskanzlei schauten sich die Anträge an, schrieben Mitberichte und Stellungnahmen, und am anderen Morgen um 9 Uhr hat man entschieden. Normalerweise haben wir eine Bundesratssitzung pro Woche. Im März gab es eine Phase, in der wir in acht Tagen fünf Sitzungen hatten. Für einige Bereiche der Bundesverwaltung bedeutete das ein 7-mal-24-Stunden-Betrieb. Und für den Bundesrat als Kollegialbehörde war es fast am Limit.

Warum?
Das Gute am Kollegialsystem ist, dass man Geschäfte aus verschiedener Perspektive sorgfältig prüft und diskutiert. Unter diesem Zeitdruck war das aber fast nicht möglich. Wir mussten über 170 Corona-Geschäfte in zuweilen sehr kurzer Zeit redigieren und überprüfen, darunter einige sehr umfangreiche oder solche, bei denen es um Milliarden ging.

Unser System ist solide, aber langsam. War es in der Krise ein Nachteil, dass nicht eine Person alleine entscheiden kann?
Natürlich wäre das schneller. «Schnell entscheiden» kann man immer, einfach zum Preis, dass es auch komplett falsch sein kann. Im Kollegialsystem sind Fehler auch möglich, aber ich behaupte insgesamt weniger wahrscheinlich. Und gerade in Krisen ist es wichtig, sich die Sachen zwei Mal zu überlegen. Bundesrat Ritschard meinte einmal: «Wenn man in den falschen Zug einsteigt, sind nachher auch alle Stationen falsch.» Das gilt nicht nur im Bahnverkehr. Oft tauchen im Gespräch, vielleicht noch in letzter Minute, Fragen auf, die in einem anderen System nicht diskutiert worden wären.

War der Bundesrat rund um die Uhr erreichbar?
Ja. Und es wurde auch sehr viel telefoniert.

Warum traf sich der Bundesrat physisch, wo er doch dem ganzen Land Homeoffice verordnet hatte?
Es gab schon auch Telefonkonferenzen. Es ist aber effizienter, wenn man in einem Raum ist. Wir haben die Pulte auseinandergeschoben, damit die Abstandsregel eingehalten war. Die Bundesräte waren ohnehin im Bundeshaus, da konnten wir uns ebenso gut treffen. Einiges war auch sehr vertraulich und deshalb nicht geeignet für Videokonferenzen.

Ist eine Videokonferenz immer noch ein Sicherheitsrisiko?
Die Bundesräte und der Bundeskanzler verfügen über abhörsichere Telefone. Dies erlaubt es, die Gespräche verschlüsselt zu führen, wenn nötig. Wenn hingegen Experten zugeschaltet werden, ist die Sicherheit nicht immer gewährleistet.

Sie haben den Auftrag erhalten, das Krisenmanagement zu untersuchen und bis Ende Jahr einen Bericht zu erstellen. Was ist das Ziel davon?
Wir wollen unter Einbezug aller Beteiligten Lehren ziehen und Verbesserungsbedarf aufzeigen, und zwar möglichst bald, solange die Erinnerungen noch frisch sind.

Welche Lehren kann man bereits heute ziehen?
Ich möchte der Evaluation nicht vorgreifen, es gibt immer Verbesserungsbedarf. Aber immerhin: Das Gesundheitssystem kam nicht an seine Kapazitätsgrenzen, allen Patientinnen und Patienten konnten so gut wie irgendwie möglich betreut werden. Auch viele Unternehmen konnten vom Bund rasch und unbürokratisch unterstützt werden. Kritischer hinschauen werden wir bestimmt bei den Abläufen in der Verwaltung, etwa bei den Beschaffungen von medizinischem Material, aber auch bei der Vorsorgeplanung und den Pandemieplänen. Wir werden zudem prüfen müssen, ob es beim Epidemiengesetz Änderungsbedarf gibt.

Am Anfang war es ein Hüst und Hott, bis der Bundesrat den Ernst der Lage erkannte.
Ein gewisser Faktor Improvisation gehört bei jeder Krise dazu, weil es ein Prozess ist und weil man nie weiss, ob jeder Entscheid 100 Prozent richtig ist. Wichtig ist, dass man das Ziel nicht aus den Augen verliert.

War die komplette Einigkeit aller Parteien, Medien und der Wirtschaft zeitweise nicht unheimlich?
Auf die Länge ist es immer unheimlich, wenn alle gleicher Meinung sind. Der Zustand der landesweiten Einigkeit hat ja dann nicht sehr lange angehalten. Es ist aber bestimmt richtig, dass wir schnell wieder aus dem Notverordnungsmodus rauskommen.

Wo stehen wir jetzt?
Wir sind sicher noch nicht durch. Die Zahlen sind zwar äusserst positiv, aber wir wissen nicht, wo wir in zwei, drei Monaten stehen. Wir hoffen natürlich alle.

Die Schweiz war international ein Corona-Hotspot, jetzt sind die Zahlen trotz Lockerungen nahe null. Waren die Massnahmen also zu drastisch?
Die Fallzahlen gehen überall zurück. Die Frage ist: Wie lange? Wenn die Leute sich nicht mehr vorsichtig verhalten sollten, steigt das Risiko. Bei einem nächsten Anstieg kann man mit der Rückverfolgung arbeiten, und es braucht nicht mehr ähnlich drastische Massnahmen.

Bräuchte es dazu nicht viel schneller die Tracing-App statt erst im Sommer?
Die Rückverfolgbarkeit ist einfacher, je weniger Neuinfektionen es gibt. Momentan sind die Zahlen erfreulich tief. Insofern glaube ich an den Erfolg der Tracing-App, auch wenn sie im Sommer kommt.

Wie schlimm kommt es mit der Wirtschaft?
Das Risiko von weiteren wirtschaftlichen Schäden besteht. Ein grosser Schaden ist schon da. Auf alle Fälle werden uns die Folgen noch jahrelang beschäftigen, nur schon wegen der Schuldenlast. Im Vordergrund steht jetzt aber, dass wir neben den wirtschaftlichen Problemen das epidemiologische Problem in den Griff bekommen.

Der Bundesrat hat die Abstimmungen vom 17. Mai in den Herbst verschoben. Wäre das in einer stärker digitalisierten Welt auch nötig gewesen?
Nein, das hätte nichts geändert. Es gehört zu einer direkten Demokratie, dass man sich im Vorfeld einer Abstimmung versammeln kann. Das wird für die Meinungsbildung auch künftig wichtig sein.

Sie sagten mal, dass bei Ihnen immer zehn Bücher auf dem Nachttisch liegen. Was ist Ihr Lockdown-Buchtipp?
Den habe ich leider nicht. Ich war in der kritischen Phase die ganze Zeit über in Bern und nicht zu Hause. Ich habe nur Akten gelesen und war froh, wenn ich etwas schlafen konnte, aber was ich für die Evaluation wieder hervornehme: «Linked: How Everything Is Connected to Everything Else» von A.-L. Barabasi.


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