Bürgerlich geprägte Rentenreformen bei AHV und Pensionskassen
Gewerkschaften ärgern sich gleich doppelt

Die Rentenreformen bei AHV und Pensionskassen passen den Gewerkschaften gar nicht. Der Grund: die bürgerliche Marschrichtung. Jetzt rufen sie zur Demo in Bern.
Publiziert: 03.09.2021 um 10:00 Uhr
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Aktualisiert: 03.09.2021 um 11:36 Uhr
Ruedi Studer

Wie viel bleibt nach der Pensionierung noch im Portemonnaie? Diese Frage entscheidet sich in Bundesbern. Derzeit stehen nämlich gleich zwei Rentenreformen auf der Traktandenliste. Die Reform der AHV sowie der beruflichen Vorsorge (BVG).

Gleich beide Vorlagen bringen die Gewerkschaften in Rage. Am 18. September rufen sie deshalb mit links-grünen Parteien und Frauenorganisationen auf zur grossen Renten-Demo in Bern. Weshalb, erklärten Vertreterinnen und Vertreter des Gewerkschaftsbunds und des Gewerkschaftsdachverbands Travailsuisse am Freitag an einer Medienkonferenz.

AHV: «Auf dem Rücken der Frauen»

Schon länger im Kampfmodus befinden sich die Gewerkschaften bei der AHV-Reform. Diese befindet sich im Parlament auf der Zielgeraden. Fix ist: Das Frauenrentenalter soll auf 65 Jahre steigen.

Anfang Jahr protestierten die Gewerkschaften mit über 300'000 Unterschriften gegen die Erhöhung des Frauenrentenalters.
Foto: keystone-sda.ch
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Gestritten wird derzeit noch über das Kompensationsmodell. Der Nationalrat sieht einen Rentenzuschlag von 50 bis 150 Franken für sechs Frauenjahrgänge vor. Die zuständige Ständeratskommission möchte 100 bis 240 Franken für neun Jahrgänge sprechen. In der Herbstsession befasst sich die kleine Kammer mit dem Geschäft. Unter dem Strich soll die AHV bis 2030 mehrere Milliarden auf Kosten der Frauen. Nur gut ein Drittel der Einsparungen würde durch Ausgleichsmassnahmen kompensiert.

Den Gewerkschaften kommt die Erhöhung des Frauenrentenalters nicht in die Tüte. Das Referendum ist bereits angekündigt. «Die Frauen leiden immer noch unter grossen wirtschaftlichen Ungleichheiten, sowohl während ihres Arbeitslebens als auch im Ruhestand», so SGB-Chef und SP-Nationalrat Pierre-Yves Maillard (53). «Einsparungen auf dem Rücken der Frauen sind inakzeptabel.»

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BVG: «Rentenkürzungen bis 12 Prozent»

Die Wut der Gewerkschaften erst recht angestachelt haben die jüngsten Entscheide der nationalrätlichen Sozialkommission zur Pensionskassen-Reform. Unbestritten ist: Der Umwandlungssatz soll im BVG-Obligatorium von 6,8 auf 6 Prozent sinken.

Doch auch hier sind die Ausgleichsmassnahmen der grosse Knackpunkt. Die bürgerliche Mehrheit der Sozialkommission wischte den vom Bundesrat gestützten Sozialpartner-Kompromiss von Arbeitgeberverband und Gewerkschaften vom Tisch. Dieser sah einen mit 0,5 Lohnprozent solidarisch finanzierten Rentenzuschlag von 100 bis 200 Franken vor. Die Bürgerlichen störten sich an den pauschalen Rentenzuschläge für alle, die sie als «Gieskannenprinzip» kritisierten.

Stattdessen setzt die Kommission auf ein von SVP-Nationalrat Thomas de Courten (55) eingebrachtes Alternativmodell. Der Rentenzuschlag soll über höhere Beiträge oder Pensionskassen-Reserven finanziert werden. Allerdings würde der Zuschlag nur Versicherte «im und nahe beim BVG-Obligatorium» erhalten. Eine kleine Minderheit: Gemäss der Urheber würde nur gut jeder Siebte den Zuschlag bekommen. Auf 15 Jahrgänge begrenzt.

Der bürgerliche Coup treibt die Gewerkschaften auf die Barrikaden. «Die Beschlüsse führen zu Rentenkürzungen von bis zu 12 Prozent», erklärte SGB-Zentralsekretärin Gabriela Medici. Die Sozialversicherungs-Expertin hat konkrete Beispiele berechnet. Besonders hoch seien die Rentenkürzungen für jene Personen, die bei Inkrafttreten der Reform gerade nicht mehr zu Übergangsgeneration zählen würden und über 50'000 Franken verdienen würden. «Für 48-jährige Frauen würden die Beschlüsse eine Renteneinbusse von monatlich beinahe 200 Franken bedeuten.»

Unter 50-Jährige haben nichts davon

Tieflöhner könnten zwar mit einer etwas höheren Rente rechnen. «Aber nur, weil sich auch ihre Lohnbeiträge an die zweite Säule massiv erhöhen.» Medici kommt in ihrer Analyse zum Schluss, dass im De-Courten-Modell besonders Teilzeitbeschäftigte – und damit vor allem Frauen – mit Verschlechterungen rechnen müssten.

So würden etwa Pflegefachfrauen, Pöstlerinnen oder Lehrerinnen von der Kompensation ausgeschlossen. Im Gegenzug müssten sie aber den Rentenzuschlag etwa für Ingenieure und Architekten mitfinanzieren, die trotz höherem Einkommen in einer BVG-Minimalklasse versichert seien, so Medici. «Und schliesslich müssten alle Personen unter 50 Jahren einen finanziellen Beitrag an die Kompensation leisten, ohne selber etwas zu erhalten.»

«Negative Gleichberechtigung»

«Die Reformen, so wie sie heute auf dem Tisch liegen, sind ein Affront gegenüber den Arbeitnehmenden», zog Travailsuisse-Präsident Adrian Wühtrich (41) Fazit. Sie seien der Inbegriff dessen, was man als «negative Gleichberechtigung» bezeichnen könne. «Sie richten sich gegen die Frauen, gegen die Mitte der Gesellschaft und gegen das Vertrauen in eine zukunftsfähige solidarische Altersvorsorge.»

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