Damit lief der Bundesrat in Brüssel auf
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Blick enthüllt
Damit lief der Bundesrat in Brüssel auf

Jetzt ist klar: Der Bundesrat hatte, anders als von Brüssel behauptet, die strittigen Punkte des Rahmenabkommens nicht einfach alle ausklammern wollen. Bundespräsident Guy Parmelin und Bundesrat Ignazio Cassis zeigten heute, womit die Schweiz nach Brüssel reiste.
Publiziert: 26.04.2021 um 16:31 Uhr
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Aktualisiert: 27.04.2021 um 19:44 Uhr
Bundespräsident Guy Parmelin, links, und Aussenminister Ignazio Cassis mussten bei der Aussenpolitischen Kommission zum Rahmenabkommen Stellung nehmen.
Foto: Keystone
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Ladina Triaca, Daniel Ballmer und Sermîn Faki

Der Bundesrat sei «völlig konzeptlos», sagen Aussenpolitiker, die sich heute Vormittag mit Bundespräsident Guy Parmelin (61) und Aussenminister Ignazio Cassis (60) getroffen haben. Die Regierung wisse noch nicht einmal, ob sie die Verhandlungen mit der EU überhaupt weiterführen wolle. Mehrere Parlamentarier äussern den Verdacht, der Bundesrat würde eigentlich am liebsten abbrechen, «weil die im November gesetzten Ziele nicht erreicht worden sind».

Abbruch keine Option

Die Aussenpolitische Kommission des Nationalrates hat sich indes deutlich positioniert: Sie fordert den Bundesrat dazu auf, die Gespräche ums Rahmenabkommen mit der EU sowohl auf technischer als auch auf politischer Ebene weiterzuführen – und zeitnah abzuschliessen. «Ein Abbruch der Verhandlungen ist keine Option», sagte Kommissionspräsidentin Tiana Angelina Moser (42, GLP).

Der Bundesrat hat den Kommissionsmitgliedern am Vormittag auch Einblick in das Verhandlungsmandat von Chefunterhändlerin Livia Leu (60) gegeben. Dieses war mit Spannung erwartet worden, da die Regierung bisher eisern über das EU-Dossier geschwiegen hatte. «Wir wissen nun, dass der Bundesrat die Hürden sehr hoch angesetzt hat», sagt FDP-Nationalrat Hans-Peter Portmann (58). Nun müsse die Schweiz Kompromisse eingehen.

Die Behauptung der EU-Kommission, wonach die Schweiz die drei umstrittenen Punkte – Lohnschutz, die Übernahme der Unionsbürgerrichtlinie und staatliche Beihilfen – vollständig habe ausklammern wollen, stimme so nicht. «Aber es waren weder Klärungen noch Präzisierungen, es ging wirklich um integrale Ausschlüsse von gewissen Bereichen», sagt Hans-Peter Portmann.

Lohnschutz soll bleiben

Der grösste Zankapfel ist die Unionsbürgerrichtlinie. Bei einer Übernahme durch die Schweiz hätten EU-Bürger leichteren Zugang zur Sozialhilfe. Das stösst bei den Bürgerlichen auf grossen Widerstand. Wie Blick-Recherchen zeigen, will der Bundesrat die Richtlinie nun explizit ausschliessen. Er verlangt eine sogenannte «differenzierte Immunisierung». Das heisst, dass die Schweiz lediglich die Aspekte der Unionsbürgerrichtlinie übernehmen würde, die heute bereits gelten. Die EU dürfte damit kaum einverstanden sein.

Grosse Differenzen bestehen auch beim Lohnschutz. Der Bundesrat verlangt von Brüssel quasi eine «Kein-Rückschritt-Klausel»: Er will die Schweizer Kontrollmechanismen beibehalten – unabhängig davon, wie sich das EU-Recht in Zukunft entwickelt. Bei Unternehmen aus der EU, die in der Schweiz Arbeiten verrichten, ist der Bundesrat hingegen offenbar bereit, die Voranmeldefrist von acht auf vier Tage zu senken. Zu welchen Zugeständnissen die EU allenfalls bereit wäre, ist offen.

Es zeichne sich allerdings ab, dass der grösste Streitpunkt nicht mehr der Lohnschutz, sondern die Unionsbürgerrichtlinie sei, sagt SP-Nationalrat Fabian Molina (30). «Deshalb ist es nun an den Bürgerlichen, sich zu bewegen.» Die SP sehe in der Richtlinie kein Problem – im Gegenteil. «Wenn ein EU-Bürger in der Schweiz seinen Job verliert, hätte er künftig Anspruch auf Arbeitslosengeld. Das ist ein Fortschritt», sagt Molina.

Das sieht sein Kollege, Aussenpolitiker Eric Nussbaumer (60), ähnlich. Und: Der Bundesrat habe quasi schon aufgegeben. «Die Aussenpolitische Kommission hat ihn aber beauftragt weiterzuverhandeln.» Für Nussbaumer sollte das Abkommen bis im Sommer abgeschlossen sein. Gleichzeitig seien die Assoziierungsabkommen zu «Erasmus+» und «Horizon Europe» unter Dach und Fach zu bringen.

Weniger Steuerdumping

Einen kreativen Vorschlag, um das Lohnschutz-Problem zu lösen, hat Grünen-Präsident Balthasar Glättli (49): «Die EU könnte ihre Zustimmung für weniger Lohndumping geben, wenn die Schweiz zustimmt, weniger Steuerdumping zu machen.» Schliesslich könne man sich das Entgegenkommen der EU nicht einfach erkaufen, sondern müsse selber auch ein Schritt auf Brüssel zumachen.

Rascher einig dürfte man sich beim dritten Streitpunkt, den staatlichen Beihilfen, werden. Offenbar dreht sich die Diskussion aktuell nur um das Luftverkehrsabkommen, wobei sich eine Lösung bereits abzuzeichnen scheint.

Weniger transparent als zum Mandat, habe sich der Bundesrat zum weiteren Vorgehen geäussert, sagt Mitte-Aussenpolitikerin Elisabeth Schneider-Schneiter (57). «Der Bundesrat hat noch keinen konkreten Plan, wie es mit dem bilateralen Weg weitergehen soll, wenn das Abkommen scheitert», sagt sie. Alternativen seien bisher keine aufgezeigt worden. Auch deshalb wäre derzeit ein Abbruch «eine Bankrotterklärung».

Bevor der Bundesrat heute Abend vor die Medien tritt, wird er um 17.30 Uhr auch die Aussenpolitische Kommission des Ständerats informieren. Bis am Mittwoch konsultiert er Kantone und Sozialpartner, um dann ein weiteres Mal über seine EU-Strategie zu beraten. Nebst dem Weiterverhandeln dürfte dabei auch ein Abbruch der Gespräche ernsthaft diskutiert werden.

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