Baume-Schneider in Interview zum AHV-Verrechner
«Es geht nicht, dass man sich auf die Zahlen nicht verlassen kann»

Sie ist das erste Mal als Kulturministerin am Filmfestival Locarno: Elisabeth Baume-Schneider (60). Das grösste Drama spielt sich aber nicht auf der Leinwand, sondern um unsere AHV ab. Die Bundesrätin nimmt dazu Stellung.
Publiziert: 08.08.2024 um 19:17 Uhr
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Aktualisiert: 09.08.2024 um 10:45 Uhr
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Katja RichardRedaktorin Gesellschaft

Ihr erster Auftritt als Kulturministerin am Filmfestival wird vom AHV-Debakel überschattet: Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider begrüsst zum Interview in einem lauschigen Hinterhof mitten in Locarno. 

Blick: Frau Bundesrätin, die halbe Schweiz spricht in den letzten Tagen von Rechnungsfehlern bei der AHV-Prognose bei ihrem Bundesamt für Sozialversicherungen. Sie haben sich bisher nicht dazu geäussert, weshalb machen Sie sich rar?
Elisabeth Baume-Schneider:
Ich habe schon am Dienstagabend gegenüber zahlreichen Medien Stellung genommen. Und das tue ich auch heute wieder. Aber es war auch wichtig, dass das Bundesamt für Sozialversicherungen zunächst selbst erklärt, welche Fehler bei ihm passiert sind. Jeder hat seine Verantwortung zu tragen. Zu meiner Verantwortung gehört, dass ich eine Administrativuntersuchung angeordnet habe, um die Sache aufzuklären. Anschliessend sollen entsprechende Massnahmen ergriffen werden können.

Heisst das, Sie schliessen personelle Konsequenzen nicht aus?
Heute ist es zu früh für diese Diskussion. Lassen wir die Untersuchung arbeiten. Wenn ihre Ergebnisse vorliegen, werde ich alle Massnahmen treffen, die erforderlich sind.

Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider besuchte die Piazza Grande am Film Festival in Locarno. «Es gehört zum Zauber des Kinos und der Piazza, dass man diese Emotionen gemeinsam erlebt», sagt sie zu Blick.
Foto: keystone-sda.ch
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Die Linke moniert schon länger, dass bei der AHV so Schwarzmalerei betrieben wird. Hätte man nicht schon viel früher diese ganze AHV-Finanzierung richtig überprüfen müssen?
Bis vor drei Wochen gingen alle davon aus, dass die Finanzperspektiven stimmen. Sobald ich über den Fehler informiert wurde, habe ich gesagt, dass das nicht geht.

Was erhoffen Sie sich von der angekündigten Untersuchung?
Fakten. Ich will verstehen, was und wie das passiert ist, auch damit sich so etwas nicht wiederholt. Die AHV-Perspektiven sind sehr wichtig, weil Volk und Politik sich bei Reformen auf sie abstützen. Die AHV ist unser stärkstes Sozialwerk. Es geht nicht, dass man sich auf die Zahlen nicht verlassen kann.

Die Frauen von SP und Grünen wollen eine Abstimmungsbeschwerde einreichen, um die Abstimmung über das Frauenrentenalter zu wiederholen. Was halten Sie davon?
Ich begrüsse, dass man in der Schweiz die Möglichkeit hat, einen Rekurs einzulegen. Es ist aber nicht an mir, zu sagen, was passieren wird. Es wird wahrscheinlich das Bundesgericht sein, das darüber befinden muss.

Verzögern sich wegen der neuen Prognosen die nächsten Reformschritte der AHV?
Das glaube ich nicht. Die AHV braucht eine nachhaltige Finanzierung und sie muss immer wieder an die gesellschaftlichen Entwicklungen angepasst werden. Das Parlament hat vom Bundesrat bis 2026 die nächste grosse Reform bestellt. Dieses Datum gilt. 

Kommen wir zum Film. Was braucht es, damit es bei dieser AHV-Affäre ein Happy End gibt?
Happy macht diese Angelegenheit niemanden. Die Administrativuntersuchung wird uns helfen, Massnahmen zu ergreifen, damit so etwas nie mehr passieren kann. Wenn das gelingt, wäre das zwar kein echtes Happy End, aber ein gutes Ende. 

Sie sind erstmals als Kulturministerin in Locarno, was sagen Sie zur Piazza Grande?
Als Regierungsrätin habe ich hier schon einige Filme gesehen. Geblieben ist mir vor allem die besondere Stimmung hier. Auch wenn ein Gewitter über die Piazza zieht, bleibt man noch einen Moment sitzen. Das gehört zu Locarno. 

Was für Filme möchten Sie hier gerne sehen?
So etwas wie der Film, der gestern eröffnet hat («Le Déluge», der Film zeigt die letzten Tage von Louis XVI und seiner Frau Marie Antoinette 1792 bevor sie in der Französischen Revolution geköpft werden). Diese Fragen, die der König stellt, wie sein letzter Tag ablaufen wird, sind interessant. Fragen zum Sterben beschäftigen uns alle. Es gehört zum Zauber des Kinos und der Piazza, dass man diese Emotionen gemeinsam erlebt.

Wie wichtig ist der Glamour für Locarno?
Es ist ein besonderes Erlebnis, dass die Schauspielerinnen und Akteure eines Films auf der Bühne anwesend sind. Das spielt in Locarno ebenso eine Rolle, wie in Cannes. Es ist die Möglichkeit, den Heldinnen und Helden der Leinwand näherzukommen. 

Welches wäre Ihre liebste Rolle in einem Film?
Die Heldin natürlich. Das muss nicht Superwoman sein. Oft sind die wahren Helden bescheidene Menschen, die im Stillen wirken und so die Welt ein stückweit besser machen. Solche Charaktere möchte ich mehr in den Vordergrund rücken. Denn für eine gerechtere und sozialere Welt, braucht es ganz viele Heldinnen und Helden, die ihren Beitrag leisten. 

In Ihrem Wohnort Les Breuleux gibt es 1300 Einwohner und ein Kino.
Ja, und das ist sehr wichtig. Das Kino gehört der Gemeinde und es wird von Freiwilligen betrieben, ist aber sehr professionell. Ich finde es sehr schön, dass ich mir eine Kinopremiere daheim in Les Breuleux anschauen kann, die zugleich auch in Zürich läuft. 

Warum ist Kino wichtig?
Es ist Teil unserer Kultur und des gesellschaftlichen Lebens im Jura. Gleich im Dorf nebenan gibt es ebenfalls ein Kino, in Tramelan auch. Der Filmclub Zauberlaterne ist sehr populär und führt die Kinder schon ab 5 Jahren ans Kino heran. Sie können jeden Monat einen Film entdecken und dabei lernen und verstehen, wie ein Film entsteht. Filme bringen uns zum Lachen, Weinen und Träumen. Es ist ein anderes Erlebnis, wenn man das gemeinsam tut.

Sie sind Jurassierin, wann kommt die Schweizer Komödie mit jurassischen Separatisten auf die Leinwand?
Oh, da gibt es schon einige. Auch über den Unspunnenstein. Und bei allem Potenzial für eine Komödie, ist der Kanton Jura auch ein wichtiges Stück Geschichte der Schweizer Demokratie. Dass es möglich ist, einen neuen Kanton zu gründen, ist alles andere als selbstverständlich. Es zeigt, dass unsere Demokratie lebendig und wirksam ist.

Wir sind nahe an Italien. Wie viel Italianità braucht die Schweizer Kultur? Pro Helvetia will sich aus Venedig zurückziehen und den Palazzo Trevisan verkaufen. Was sagen Sie dazu?
Hier muss man präzis sein: Pro Helvetia muss sparen und hat beschlossen, seine Aktivitäten im Palazzo Trevisan Ende 2026 einzustellen. Aber der Palazzo gehört dem Bund, nicht der Kulturstiftung. Es gibt keinen Entscheid, den Palazzo zu verkaufen. Dass der Rückzug von Pro Helvetia aus dem Palazzo im Tessin Betroffenheit auslöst, kann ich aber sehr gut verstehen. Ich höre diese Sorgen, gerade hier in Locarno, und nehme sie ernst. Es finden Gespräche statt und ich will gerne helfen, dass gemeinsam mit allen Partnern eine gute Lösung gefunden werden kann.

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