Mehr Europa, weniger China
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Cassis warnt vor Risiken:Mehr Europa, weniger China

Aussenminister Ignazio Cassis warnt im grossen Interview vor globalen Risiken
Mehr Europa, weniger China

Ignazio Cassis will Schweizer Interessen mit Nachdruck vertreten – nicht zuletzt gegenüber China. Der Freisinnige wirbt aber auch für Klarheit im Umgang mit der EU.
Publiziert: 01.08.2020 um 23:19 Uhr
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Aktualisiert: 02.08.2020 um 08:18 Uhr
Simon Marti

Eigentlich wäre Ignazio Cassis (59) jetzt an ­einer Konferenz in Südostasien. Die Pandemie liess die Reise nicht zu. Der FDP-Bundesrat konnte daher am Freitag das Nationale Jugendsportzentrum in Tenero TI besuchen – und mit SonntagsBlick sprechen. Dabei verwies er auf eine unsichere Weltlage und auf die Grossmacht China, die einen anderen Weg gehe, als der Westen – auch die Schweiz – noch vor wenigen Jahren hoffte.

Herr Bundesrat, Sie verbringen diese Tage in dem Kanton, der wohl am stärksten unter der Corona-Pandemie gelitten hat. Wie geht es Ihrer Heimat?
Ignazio Cassis: Heute überdurchschnittlich gut. Das Tessin war stark betroffen. Das führte zu einer Sensibilisierung der Bevölkerung. Jetzt, wo die Infektionszahlen wieder steigen, bleiben sie hier vergleichsweise tief, weil die Menschen ihr Verhalten angepasst haben.

Kommt dem Bundesfeiertag in diesem Jahr eine spezielle Bedeutung zu?
Für mich steht der 1. August 2020 für die Wiederentdeckung des eigenen Landes. Die Schweizerinnen und Schweizer reisen in ihrer Heimat umher und ent­decken wunderbare Regionen. Weil wir nicht in die Ferne reisen können, merken wir, in welch wunder­barem Land wir leben.

«Ein ungeregeltes Verhältnis zur EU können wir uns nicht leisten», sagt Ignazio Cassis im grossen BLICK-Interview.
Foto: Thomas Meier
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Sie besuchen in Tenero Sportlerinnen und Sportler. Was sagen Sie diesen jungen Menschen, die sich ja doch stark einschränken müssen?
Bewegt euch! Bewegung ­bedeutet Freiheit und im ­Falle dieser Sportler auch Leistung und Vorbereitung. Im Tessin erzählen wir einan­der die Fabel von der Ameise und der Heuschrecke: Die Ameise sorgt im Sommer vor, die Heuschrecke sonnt sich im Gras und leidet dann im Winter. Diese Jungen stehen für mich für die Ameise und ihre Leistung – und so in gewissem Sinne für den Erfolg der Schweiz.

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Um auf Corona zurück­zukommen: Die Infek­tionszahlen steigen, wir stehen national wieder bei rund 200 Fällen pro Tag. Hat der Bundesrat zu früh Optimismus verbreitet, als er im Juni die Lockerungen vornahm?
Der Bundesrat hat immer klar gesagt: Die Krise ist nicht vorbei. Vorbei war das Schlimmste der ersten Phase. Deshalb hat der Bundesrat gewisse Lockerungsmassnahmen beschlossen. Dabei ging es vor allem ­darum, aus der ausserordentlichen Lage, aus dem Notrecht, wieder auszusteigen. Die Schweiz ist kein zentralistisches Land, die Kantone wollen ihre Kompetenzen wahrnehmen.

Diesen Föderalismus in der Krise stellen Sie nicht in Frage?
Wir sehen eine gewisse ­Heterogenität bei den kantonalen Massnahmen. Epidemiologisch gesehen ist das Virus ja auch nicht über das ganze Land gleich verteilt. Sollte sich, was ich nicht hoffe, die Situation verschlimmern, muss der Bundesrat die Situation neu beurteilen. Dann ist auch die erneute Aus­rufung der ausserordentlichen Lage nicht ausgeschlossen. Wichtig ist jetzt, wie immer, Ruhe zu bewahren.

Die Fallzahlen wirken beunruhigend ...
Es wird auch mehr getestet. An seiner nächsten Sitzung vom 12. August wird der Bundesrat eine Bestandesaufnahme vornehmen. Als Aussenminister stehe ich im steten Kontakt mit an­deren Staaten, um Er­fahrungen auszutauschen. Auch mit Ländern, die wieder steigende Fallzahlen verzeichnen. Was übrigens auf Vietnam zutrifft, weshalb ich den 1.August nicht wie geplant in Südostasien verbringe.

Sie wollten nach Hanoi und bleiben in der Schweiz. Wäre nicht eine Reise nach Brüssel angemessener, um endlich das Rahmenabkommen mit der EU auf den Weg zu bringen?
Bevor wir nach Brüssel gehen und über das Rahmenabkommen diskutieren, müssen wir zuerst unsere Position definieren. Für die EU steht das Rahmenabkommen im Moment nicht auf der Prioritätenliste.

Aber für Bern.
Genauso wie es vor sechs Monaten Thema war. Der ganze Zeitplan, der nun mal von der ­Abstimmung über die Begrenzungs-Initiative (BGI) bestimmt ist, hat sich durch Covid verschoben.

Deshalb bleiben die offenen Punkte beim Rahmenabkommen – der Lohnschutz, die Unionsbürgerrichtlinie, die staatlichen Beihilfen – weiterhin ungelöst.
Das ist Ihre Behauptung. In der Schweiz haben die ­Gespräche in den Arbeitsgruppen nie ganz aufgehört. Diese drei Fragen gilt es zu klären, für die Zeit nach der BGI.

Die EU hat ein 1,8 Billionen Euro schweres wirtschaftliches Impulsprogramm beschlossen. Davon pro­fitiert auch die Schweiz. Sollten wir uns beteiligen, um Goodwill für das Rahmenabkommen zu schaffen?
Die Schweiz profitiert vom Zugang zum europäischen Binnenmarkt. Es gibt Stu­dien, laut denen sie zu den Ländern gehört, die am meisten profitieren. Das unterstreicht die Bedeutung der ­bilateralen Verträge. Das sollten wir im Kopf haben, wenn wir über die BGI entscheiden. Doch die Bilateralen sind im Interesse beider Seiten.

Also soll sich die Schweiz nicht am Impulspaket beteiligen?
Als Nichtmitglied der EU beteiligt sich die Schweiz nicht daran. Wir bringen unsere Beteiligung auf anderen Wegen ein. Für uns hat jetzt die Klärung der ­offenen Fragen Priorität.

Manche EU-Politiker wünschen sich eine Erhöhung der Kohäsionsbeiträge.
Diese Stimmen gibt es. Aber lassen Sie es mich so sagen: Die EU hat uns nicht um Geld angefragt.

Was geschieht in den Wochen nach der Abstimmung, wenn die BGI abgelehnt werden sollte?
Falls die BGI scheitert, wird die Schweiz Vorschläge ­unterbreiten, wie die drei offenen Punkte gelöst werden können.

Wird das vor dem Jahresende der Fall sein?
Davon gehe ich aus. Aufgrund unserer Vorschläge wird es dann mit der EU eine Diskussion geben.

Umfragen lassen ver­muten, dass die BGI in der Bevölkerung einen schweren Stand hat. ­Gewinnt die Pandemie die Abstimmung?
Ich bin kein Kaffeesatzleser. Seit der Masseneinwanderungs-Initiative wissen wir, dass solche Prognosen nicht immer stimmen. Erst warten wir den Entscheid des Volkes ab, den es zu respektieren gilt. Nach der Unsicherheit der letzten Monate werden es sich die Menschen aber zweimal überlegen, ob sie die für uns existenziell wichtigen Beziehungen zur Europäischen Union auch noch gefährden wollen.

Die Grenzschliessungen während Corona stärken doch die Position der SVP im Abstimmungskampf?
Die Grenzen waren zum Glück nie komplett geschlossen. Die ganze Schweiz und insbesondere auch wir Tessiner haben doch gespürt, wie mühsam es ist, wenn der Grenzverkehr plötzlich so stark eingeschränkt wird. Die Pandemie hat bewiesen, wie wichtig die Bewegungsfreiheit für unsere Gesellschaft und unsere Wirtschaft ist.

Die Pandemie stellt momentan die USA vor unglaubliche Probleme, zugleich verläuft der ­Aufstieg Chinas scheinbar ungebremst. Wie beur­teilen Sie diese geo­politische Verschiebung?
Die Welt wird unsicherer. Nehmen Sie das Schweizer Freihandelsabkommen mit China. Es kam auch im Glauben zustande, sich ­damit ein wenig von Europa emanzipieren zu können. Jetzt merken wir, dass die Geschichte unruhiger verläuft als angenommen. Die Menschenrechtsverletzungen nehmen zu. Wir wollen diese Rechte schützen.

Auch die Schweiz stellt nun fest, dass die poli­tische Liberalisierung Chinas trotz seiner wirtschaftlichen Öffnung ausbleibt.
In 70 Jahren Beziehungen mit China haben wir es verstanden, unser Verhältnis konstruktiv, aber kritisch zu gestalten. Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte waren stets Teil unseres Dialogs. Die These des Westens war: Zunächst schaffen wir die wirtschaftlichen Beziehungen, dann reden wir über Menschenrechte. Erst das Fressen, dann die Moral, wie Bertolt Brecht einmal sagte. Jetzt beobachten wir, dass China vom Weg der Öffnung abkommt. Das bedeutet, dass auch die Schweiz ihre Interessen und Werte robuster vertreten muss, etwa durch Stärkung des internatio­nalen Rechts und des multi­lateralen Systems.

Könnte das Freihandelsabkommen mit China einmal zur Hypothek für die Schweiz werden?
Davon sind wir weit entfernt. Das Abkommen gibt uns mehr Rechtssicherheit, schützt also bis zu einem gewissen Grad unsere In­teressen und Werte. Wenn China aber im Falle Hongkongs das Prinzip «Ein Land, zwei Systeme» aufgibt, betrifft das auch viele Schweizer Unternehmen, die dort investiert haben.

China hat diese Politik faktisch aufgegeben.
Ja. Wenn China an seinem neuen Kurs festhält, dann wird die westliche Welt entschiedener reagieren.

Dann stehen die Zeichen auf Konfrontation.
Wie gesagt, die Welt wird unsicherer. Und in einer ­immer komplizierter und unsicherer werdenden Welt kann sich die Schweiz ein ungeregeltes Verhältnis zur EU – mit der sie nicht nur erstklassige Wirtschafts­beziehungen, sondern auch wichtige gemeinsame Grundwerte verbinden ­eigentlich nicht leisten.

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