Auge um Auge, Zahn um Zahn
BLICK erklärt den Börsen-Zoff zwischen Bern und Brüssel

Am Sonntag läuft sie aus – die Börsenäquivalenz. Ab dann wird die Schweizer Börse von der EU nicht mehr anerkannt. Aber was bedeutet das? Und worum geht es wirklich? BLICK beantwortet die wichtigsten Fragen.
Publiziert: 28.06.2019 um 16:49 Uhr
Sermîn Faki

Am Donnerstag bestätigte Aussenminister Ignazio Cassis (58, FDP) offiziell, was absehbar war: Brüssel wird die bis zum 30. Juni geltende Anerkennung der Gleichwertigkeit unserer Börsen mit jenen der EU (Börsenäquivalenz) nicht mehr verlängern. Der Bundesrat setzt den im letzten Sommer für diesen Fall angekündigten Notfallplan in Kraft. Nur: Was bedeutet das alles? BLICK erklärt.

Was ist eigentlich diese Börsenäquivalenz?

Die EU hat nach der Finanzkrise strengere Regeln für ihren Finanzsektor eingeführt – darunter auch für den Handel mit Wertschriften, wie beispielsweise Aktien. Weil Finanzmärkte aber nicht abgeschottet sind, hat sie auch Regeln für Nichtmitglieder, sogenannte Drittstaaten wie die Schweiz erlassen. Diese Regeln sollen sicherstellen, dass Aktien von EU-Firmen nur an jenen Nicht-EU-Börsen gehandelt werden, die die Brüsseler Kriterien ebenfalls erfüllen. Ist das der Fall, erklärt die EU die ausländische Börse als gleichwertig (äquivalent). Jedenfalls meistens. Denn die Schweiz erfüllt die Kriterien.

Und warum erteilt uns die EU die Gleichwertigkeitsbescheinigung nicht?

Kurz gesagt: Um uns dafür zu bestrafen, dass es beim Rahmenabkommen nicht vorwärts geht. Denn die EU will, dass wir das Abkommen rasch unterschreiben. Hätte es der Bundesrat beispielsweise schon vorläufig unterschreiben lassen und damit den Schlussspurt zur endgültigen Unterschrift eingeläutet, hätte uns Brüssel zumindest eine befristete Anerkennung gegeben. Doch die Erklärung des Bundesrats, dass er das Abkommen schon unterschreiben will, aber noch «Klärungsbedarf» habe, reicht der EU nicht. Um den Druck aufrecht zu erhalten, wird die Gleichwertigkeit jetzt nicht verlängert.

Am Donnerstag hat Bundesrat Ignazio Cassis bestätigt, was man schon ahnte.
Foto: Keystone
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Was bedeutet es, wenn die Schweizer Börse die Anerkennung nicht erhält?

Ohne Anerkennung dürfen EU-Banken oder -Wertschriftenhändler Aktien, die an europäischen Börsen gehandelt werden, nicht mehr an der Schweizer Börse kaufen oder verkaufen. Für die Banken ist das kein Problem – sie können auf andere Handelsplätze wie London, Paris oder New York ausweichen. Ein Problem aber haben die Schweizer Börsen: Denn EU-Händler bringen Schweizer Börsen den Grossteil ihres Umsatzes. Keine Anerkennung – kein Geschäft, heisst die einfache Gleichung.

Wird das die Schweiz hart treffen?

Das muss man abwarten. An sich würden der Schweizer Börse schwere Einbussen drohen, weil viele Aktien nicht mehr in Zürich gehandelt werden dürften. Aber: Der Bundesrat hat einen Plan B entwickelt – und er ist überzeugt, dass dieser funktioniert.

Wie soll dieser Plan B funktionieren?

Er soll alttestamentarisch nach dem Prinzip «Auge um Auge, Zahn um Zahn» wirken. Verkürzt gesagt hat die Schweiz entschieden, dass Aktien von Firmen, die in der Schweiz ihren «Börsen-Sitz» haben – also bei der Schweizer Börse SIX gelistet sind – nur noch in Ländern gehandelt werden dürfen, die wiederum die Schweizer Börse anerkennen. Das heisst: Solange uns die EU die Anerkennung verwehrt, dürfen Aktien von Unternehmen mit Schweizer «Börsen-Sitz» nicht in London, Paris oder Frankfurt gehandelt werden. Zwei namhafte Ausnahmen gibt es: Die Börse Stockholm dürfte weiterhin mit ABB-Aktien handeln, weil die Papiere des Industriekonzerns aus historischen Gründen auch dort kotiert sind. Und Lafarge-Holcim-Aktien dürften aus dem gleichen Grund weiterhin in Paris gehandelt werden. Zudem – und das ist viel interessanter – braucht die Schweizer Börse die Anerkennung der EU mit dem Plan B nicht mehr. Denn die Anerkennung umfasst nur den Handel mit Aktien, die auch an einer EU-Börse gehandelt werden. Und das wäre ja nicht mehr der Fall. Das heisst: EU-Aktienhändler dürften doch wieder an der Schweizer Börse handeln. Mit dem Schachzug setzt Bern Brüssels Drohkulisse schachmatt.

Und trifft das die EU?

Es geht so. Schweizer Aktien werden zu etwa 70 Prozent bei der SIX gehandelt und nur zu etwa 30 Prozent im Rest der Welt – von Europa ganz zu schweigen. Aktien von Roche, Nestlé und Co. machen nur etwa drei Prozent des Umsatzes der EU-Börsen aus.

Was, wenn Handelsplätze gegen den Plan B verstossen?

Bei Verstössen drohen den Geschäftsleitungs- und Verwaltungsratsmitgliedern der fehlbaren Handelsplätze Geldstrafen oder gar Freiheitsstrafen von bis zu drei Jahren. Dass es jemals dazu kommt, ist unwahrscheinlich. Denn bestraft werden müssten ja die Chefs von EU-Börsen, weswegen den Verstoss Behörden von EU-Staaten verfolgen müssten.

Wie reagieren die Börsen?

Die EU-Handelsplätze haben bereits abgekündigt, ab Montag keine Schweizer Aktien mehr zuzulassen. Und die SIX begrüsst den Plan B wie auch der Verband Swissholdings und die Bankiervereinigung. Auch wenn alle natürlich lieber die Äquivalenz hätten.

Wie reagieren die börsenkotierten Unternehmen?

Es ist nicht auszuschliessen, dass einige Unternehmen, die in der Schweiz an der Börse gelistet sind, ihren Heimhandelsplatz ins Ausland verlegen. Das hat beispielsweise das Biotech-Unternehmen Newron entschieden. Aber die SIX kann auch Erfolge verbuchen: So ist der international tätige Verpackungshersteller Aluflexpack mit Sitz in Reinach AG am Freitag an die Börse gegangen – in Zürich. «Das zeigt, dass die Schweizer Börse auch für internationale Unternehmen attraktiv ist – und das unabhängig von ihrer Grösse und Branche», so SIX-CEO Jos Dijsselhof.

Wird das alles jetzt zu einer Eskalation führen?

Auch das muss man abwarten. Wenn der Plan B des Bundesrats funktioniert wie erhofft, können vorübergehend wohl beide Seiten damit leben. Anders sieht es aus, wenn entweder Brüssel oder Bern auf die Verliererstrasse geraten – in beiden Fällen dürfte der Druck auf den Bundesrat steigen – entweder aus der EU oder von der Schweizer Wirtschaft.

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