Das Sommaruga-Prinzip
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Sommaruga in der Ukraine:«Das Land hat grosses Potential»

Auf Staatsbesuch im Kriegsland Ukraine
Das Sommaruga-Prinzip

Der Staatsbesuch in der Ukraine ist Simonetta Sommarugas (60) erste Reise seit Ausbruch der Pandemie. Hinter ihr liegen Monate im Ausnahmezustand. Eine Bilanz am äussersten Ende Europas.
Publiziert: 25.07.2020 um 16:12 Uhr
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Aktualisiert: 16.04.2021 um 15:00 Uhr
Bundespräsidentin Sommaruga landet am Abend des 20. Juli in Kiew zum Staatsbesuch.
Foto: Niels Ackermann/Lundi13
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Benno Tuchschmid

Die Bundespräsidentin sitzt auf einem Sofa in einer sonst leeren Lobby. Neben ihr der Schweizer Botschafter in der Ukraine, das Handy am Ohr. Vor dem Hotel eine grosse schwarze Limousine mit laufendem Motor. Personenschützer sichern den Eingang. Eine Polizeieskorte wartet. Alles ist bereit für die Abfahrt zum Staatsdinner im Marienpalast, dem Sitz des ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenski (42), eines auf Komödien spezialisierten Ex-Schauspielers, der nun ein Land regiert.

Und dann passiert nichts.

Ein paar Stunden zuvor hatte ein bewaffneter Mann in der westukrainischen Stadt Luzk einen Bus mit 20 Passagieren entführt – und mit dem Erschiessen der Geiseln gedroht. Selenski muss sich darum kümmern. Das Staatsdinner wird abgesagt.

Als sich die ganze Welt veränderte

Vielleicht passt es ganz gut zu diesem ersten Bundespräsidentinnen-Halbjahr 2020 von Simonetta Sommaruga, dass auch auf diesem Staatsbesuch alles angerichtet ist – und sich dann plötzlich verändert. Hier in Kiew ist es nur ein Abend. Im letzten halben Jahr war es die ganze Welt.

Die engsten Mitarbeiter von Simonetta Sommaruga betonen zwar, man wisse aus ihrer ersten Amtszeit als Bundespräsidentin, wie wenig planbar ein solches Jahr sei. Damals, 2015, verübten am 7. Januar islamistische Terroristen Anschläge auf die Redaktion der französischen Satire-Zeitschrift «Charlie Hebdo». Dann im Sommer begann, was später die Flüchtlingskrise genannt wurde – und die politische Landschaft Europas bis heute prägt.

Beides forderte auch die Schweiz. Aber nicht so wie diese Pandemie: Sie tötet Menschen in der Schweiz.

Einen Tag nach dem abgesagten Staatsdinner setzt sich die Bundespräsidentin Sommaruga etwas weiter hinten in einer ruhigen Ecke der Lobby in einen Polstersessel.

Der Geiselnehmer aus Luzk ist mittlerweile verhaftet. Seine Motive bleiben unklar. In einem Telefongespräch hatte er Präsident Selenski aufgefordert, mit einer Videobotschaft einen Film über Tierrechte namens «Earthlings» zu bewerben. Tatsächlich erschien darauf in einem sozialen Netzwerk ein Video, in dem Selenski sagt: «Earthlings – jeder sollte ihn schauen.»

Die alten Termine stehen noch in der Agenda

Simonetta Sommaruga nimmt die Maske ab, um über die letzten sechs Monate und diese Reise zu reden.

In ihrer Agenda stehen noch immer die Termine, die ihr Jahr hätten prägen sollen. Zum Beispiel: 21. Juli 2020, Eröffnung Olympische Sommerspiele Tokio. Bundespräsidentin Sommaruga sagt. «Ich merke so immer mal wieder, wie dieses Jahr auch hätte verlaufen können.» Oder sollen.

Dann begannen Ende Februar plötzlich die Fallzahlen drastisch anzusteigen – und da habe sie irgendwann gewusst: «Jetzt werden wir als Bundesrat bis aufs Letzte gefordert.»

Es folgen Wochen im Ausnahmezustand. Die Tage fangen mit Krisensitzungen an – und enden fast nicht mehr. Bis zu fünf Bundesratssitzungen führte Sommaruga pro Woche. Eigentlich repräsentiert die Bundespräsidentin in ihrem Amtsjahr vor allem die Schweiz im Ausland.

Nun telefonierte Sommaruga statt zu reisen. Mit dem italienischen Ministerpräsidenten Conte mehrmals. Die beiden haben sich noch nie gesehen, aber es entstand so etwas wie eine Telefonfreundschaft. «Wir stellten uns in dieser Phase alle die gleiche Frage: Was macht ihr? Was funktioniert? Das verbindet.» Dazu kamen unzählige weitere Gespräche, unter anderem mit dem Uno-Generalsekretär, dem südkoreanischen Präsidenten, eine Stunde Videokonferenz mit Angela Merkel.

Oft ging es auch um ganz konkrete Probleme. Um von der EU blockierte Masken zum Beispiel, die Sommaruga in Gesprächen mit EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und Wirtschaftsminister Guy Parmelin mit seinen Kontakten freitelefonierten.

Im Rampenlicht standen andere

Und trotzdem: Als die starken Figuren der Krise galten in der Schweiz während des Lockdowns andere. Gesundheitsminister Alain Berset wurde mit General Guisan verglichen. Daniel Koch erklärte man zum Kultsubjekt. Sommaruga wurde nur dann sichtbar, wenn es grosse Änderungen zu verkünden gab. Als ein Ruck durchs Land gehen musste. Als die Öffnung kam.

Wieso überliess sie als Bundespräsidentin in dieser Phase anderen das Rampenlicht?

In der Lobby dudelt im Hintergrund unverfängliche Unterhaltungsmusik. Sommaruga: «Vergessen wir bitte nicht, worum es geht! Um eine Pandemie. Krisen sind keine Sololäufe. Meine Aufgabe als Bundespräsidentin war und ist es, dieses Gremium zusammenzuhalten und jedem den Platz einzuräumen, der ihm zusteht.»

Vielleicht lässt sich so die Sommaruga-Methode zusammenfassen. Zusammenhalten, jedem seinen Platz einräumen.

Dafür gibts kein General-Vergleich in der Presse. Und auch nicht das Prädikat Kult.

Für die Schweiz hatte die Sommaruga-Methode Konsequenzen. Sie prägte die Schweizer Covid-Strategie, die Art und Weise, wie der Bundesrat das Land durch die Pandemie «navigierte», wie Sommaruga selbst es ausdrückte.

Sommaruga gilt als die Architektin des Schweizer Mittelwegs beim Kampf gegen Covid-19. Sie selbst sagt dazu: «Mir war es wichtig, dass wir keine extremen Entscheidungen treffen. Für mich war schnell klar, dass weder eine totale Ausgangssperre noch das schwedische Modell, bei dem man die Menschen zu Beginn sich selber überliess, gangbare Wege sind.»

Dann drängt die Pressesprecherin auf den nächsten Termin. Sommaruga sagt noch, dass sie beim nächsten Gespräch mehr über die Ukraine reden wolle. Vor der Tür wartet schon die Polizeieskorte.

Eine Reise mit Symbolcharakter

Ein Bundespräsidentenjahr ist ein Jahr der Symbolik, der grossen Gesten. Die Ukraine passt da perfekt rein.

Wie die Reise zum 75. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz, wo sie am 27. Januar als erste Bundesrätin das Schicksal der Schweizer KZ-Häftlinge anerkannte. Oder der Antrittsbesuch in Wien kurz danach, zu dem sie mit dem Nachtzug reiste. Oder der erste Empfang eines Staatsoberhaupts aus Subsahara-Afrika, mit dem Besuch des ghanaischen Präsidenten Nana Akufo-Addo (76) am 28. Februar.

Es ist der erste offizielle Schweizer Staatsbesuch in der Ukraine. Und der erste in ganz Europa seit der Pandemie. Sommaruga besucht in Kiew eine Plattenbausiedlung, die auf Energieeffizienz getrimmt wird (Ex-Boxer und Bürgermeister von Kiew, Vitali Klitschko, 49, ist auch da). Sie spricht mit Ministern über die Rückgabe konfiszierter Vermögen der Entourage des korrupten Ex-Präsidenten Wiktor Janukowitsch (70). Sie besucht ein hypermodernes Zentrum für Start-ups und spricht über das Potenzial des Landes, in der IT, zum Beispiel. Und sie trägt fast immer eine Maske.

Die grösste Symbolkraft auf dieser Reise hat aber der Besuch im Donbass.

Die Ukraine ist ein Land im Krieg. Seit 2014 halten russisch kontrollierte Separatisten gewaltsam den Osten des Landes unter ihrer Kontrolle. 13'000 Menschen sind seither im letzten offenen Konflikt Europas gestorben. Sie wurden Opfer geopolitischer Interessen. Im Osten der Ukraine verläuft die Bruchlinie zwischen den liberalen Demokratien des Westens und dem autoritären Russland und seiner Verbündeten.

Die Schweiz spielt in der Lösung des Ukraine-Konflikts seit Beginn eine Rolle als Vermittlerin. 2014 präsidierte Ex-Aussenminister Didier Burkhalter (60) die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), unter deren Vermittlung ein weitreichendes Vertragswerk ausgehandelt wurde. Ziel der Abkommen: Waffenstillstand, Gefangenenaustausch, Wahlen, Frieden.

Sommaruga sagt: «Die Schweiz ist das einzige Land, das Hilfstransporte auf beide Seiten der Kontaktlinie im Osten der Ukraine liefert. Und Schweizer Diplomatinnen wie die OSZE-Sonderbotschafterin Heidi Grau vermitteln zwischen den Konfliktparteien. In der humanitären Hilfe und der Friedensförderung sind wir stark, und das ist genau die Art von Hilfe, wie sie die Schweiz leisten kann.»

Im Helikopter an die Frontlinie

Einen Tag nach dem Gespräch in der Hotellobby sitzt sie in einem Helikopter der ukrainischen Luftwaffe. Die Maschine fliegt in 50 Metern Höhe über endlos scheinende Sonnenblumen- und Getreidefelder. Immer so tief, dass er für Radar schwer zu entdecken bleibt. Vier weitere Helikopter sowjetischer Bauart begleiten sie, in einem sitzt Präsident Selenski. Die Helikopter landen einige Kilometer von Stanizja Luhanska entfernt, einem der wenigen Übergänge zwischen der Ukraine und den von Separatisten kontrollierten Gebieten. Einem Wahrzeichen dieses Konflikts. Hier endet Europa.

Frauen, Männer, Junge, Alte warten mit Schubkarren und Plastiksäcken darauf, um in die andere Zone gelangen zu können. Nichts unterscheidet sie von den Menschen auf der anderen Seite der Frontlinie. Weder Ethnie noch Religion.

Die Ostukraine ist ein Labor für die Kriegsstrategen des Kremls. Hier perfektionierten sie den hybriden Krieg. Der Begriff umschreibt die Taktik, einen Gegner durch gezielte Desinformation, kriegerische Aggression und politische Agitation permanent zu destabilisieren. Aber immer so, dass niemand definitiv sagen kann, wer der Urheber ist. Und somit eine Vergeltung erschwert.

Wie beim bewaffneten Entführer in Luzk. Hatte er Verbindungen nach Russland? Dafür gibt es keine Beweise. Aber dass die Meldung der Entführung kurz vor einer gemeinsamen Pressekonferenz von Selenski und Sommaruga publik geworden war, klingt für Experten auf der ukrainischen und der Schweizer Seite nach einem zu grossen Zufall.

Corona beeinflusst den Konflikt

Als Sommaruga gemeinsam mit Präsident Selenski und einem Pulk von Mitarbeitern, Sicherheitskräften und Journalisten den schmalen Korridor zum Übergang in Stanizja Luhanska betritt, sind da viel weniger Menschen als normal. 10'000 bis 11'000 überqueren sonst täglich zu Fuss die Frontlinie.

Der Grund ist Covid.

Die Pandemie wirkt sich ganz konkret auf die Situation an der Kontaktlinie aus. Unter dem Vorwand der Seuchenbekämpfung verwehrten die Separatisten hier nicht nur den Beobachtern der OSZE den Zugang. Und verstossen damit gegen das Minsker Abkommen. Sie erschweren auch der Zivilbevölkerung die Bewegung.

Dazu verstärkt die Pandemie die so oder so schon katastrophale medizinische Versorgung der Bevölkerung im Donbass.

«I am a strong lady»

850 Meter vor dem Grenzübergang zieht Sommaruga eine blaue kugelsichere Schutzweste an. Als Sommaruga das Gewicht spürt, sagt sie: Uff. Als Selenski fragt, ob sie eine leichtere Weste wolle, lächelt sie und antwortet: «No, I am a strong lady» (ich bin eine starke Frau).

Am Morgen dieses letzten Tags des Staatsbesuchs hatte es plötzlich Bewegung gegeben in den Friedensbemühungen im Donbass. Heidi Grau, die Schweizer OSZE-Sondergesandte für die Ukraine, verkündete Massnahmen, um den Waffenstillstand zu verstärken. Die holprige Formulierung ist kein Zufall. Denn eigentlich existiert seit 2014 ein Waffenstillstand. Nur hält sich keine Seite kaum je länger als ein paar Tage daran. «Keiner der aktiven Konfliktparteien geht es um die Menschen. Es geht ihnen nur um ihre Interessen», sagt ein Schweizer Diplomat, der anonym bleiben will. Die neue Übereinkunft ist ein Hoffnungsschimmer. Wenn auch nur ein kleiner.

Sommaruga und Selenski sind mittlerweile ganz nahe an der Kontaktlinie. Die ukrainischen Sicherheitskräfte sind nervös. Die Mitarbeiter der OSZE drängen auf Umkehr, auf der anderen Seite habe es Waffen. Selenski sagt, er werde weitergehen bis zur Brücke, die das Ende des von der Ukraine kontrollierten Gebiets markiert. Die Präsidentin solle hier warten. Sommaruga sagt: Nein, sie komme mit. Alles andere wäre eine Kapitulation. Und dann gehen die beiden bis dorthin, wo Europa endet.

Anmerkung der Redaktion: In der Printversion des SonntagsBlick wurde eine fehlerhafte Karte gedruckt, in der die Krim fälschlicherweise als Teil Russlands gezeigt wird. Die Annexion der Krim gilt als völkerrechtswidrig und wird von der offiziellen Schweiz als illegal bezeichnet.

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