Alt-Bundesrätin Ruth Dreifuss kämpft für das erweiterte Antirassismus-Gesetz
«Wenn ich lesbisch wäre, hätte ich mich längst geoutet»

Die Altbundesrätin schaltet sich in den Abstimmungskampf um das erweiterte Antirassismus-Gesetz ein. Und redet über ihre eigene Erfahrung mit Ausgrenzung.
Publiziert: 11.01.2020 um 23:31 Uhr
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Aktualisiert: 27.01.2020 um 11:33 Uhr
Interview: Reza Rafi

Darf ich rauchen?», fragt Ruth Dreifuss nach einer Weile. Natürlich darf sie. Wir sitzen in ihrer lichtdurchfluteten Attikawohnung mitten in Genf. Die Grande Dame der Schweizer Sozialdemokratie ist am Donnerstag 80 Jahre alt geworden.

Mit 24 trat sie in die Partei ein. Weit über ein halbes Jahrhundert politisiert sie schon für die SP, von 1993 bis 2002 im Bundesrat. Jetzt macht sie sich für eine Erweiterung des Antirassismus-Gesetzes stark, das sie 1995 mit vorantrieb. Neu sollen Menschen auch vor Diskriminierung wegen ihrer sexuellen Orientierung geschützt werden. Abgestimmt wird am 9. Februar.

SonntagsBlick: Weshalb ist Ihnen ein Ja am 9. Februar so wichtig?
Ruth Dreifuss:
Die Erwei­terung der Antirassismus-Strafnorm ist ein wichtiger Fortschritt. Sie definiert eine Gruppe in der Gesellschaft, die Zielscheibe von Diskriminierung und Hetze ist. Gerade in der jetzigen Zeit ist das wichtig.

«Ich habe mir immer verboten, anonyme Briefe zu lesen», sagt Ruth Dreifuss.
Foto: Karl-Heinz Hug
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Warum?
Ich spüre ein vermehrtes Aufkommen von Hass gegen bestimmte Gruppen. Allgemein nimmt eine intolerante Stimmung in allen Gesellschaften zu.

Was ist Ihre Erklärung für dieses Phänomen?
Erstens – aber das ist nicht die Ursache – kann heute jeder mithilfe der sozialen Medien und unter dem Schutz der Anonymität seine Meinung viel effektiver verbreiten. Auch das macht die ­Erweiterung der Strafnorm notwendig.

Und was machen Sie als Ursache aus?
Da ist sicher ein gewisses ­Unwohlsein vieler Menschen, die sich durch die Globalisierung bedroht fühlen, und die eine gewisse Angst vor der Zukunft haben. Und bei verunsicherten Leuten ist es einfacher, ihnen einen Grund dafür vorzuschieben. Das kann dann eine gewisse Gruppe sein, die niemanden interessiert, oder die bedrohlich erscheint, wie Menschen aus anderen Kulturkreisen, anderen Religionen, anderen Lebensformen. Womit wir bei einem weiteren Grund sind …

Und zwar?
... bei Meinungsführern, die eine raue Sprache pflegen, welche Leute herabsetzt. Da gibt es viele Beispiele von Politikern, deren Sprache jenseits von Gut und Böse ist. Wie Donald Trump über Migranten und über seine politischen Gegner redet, ist verächtlich. Aber wir können auch in Europa bleiben. Der französische Präsident Emmanuel Macron sagte in ­einer Rede einmal «il y a les gens qui réussissent et les gens qui ne sont de rien».

Auf Deutsch: Es gibt Menschen, die Erfolg haben, und solche, die nichts sind.
Das ist ebenso gefährlich wie Trumps Rhetorik. Auch in der Schweiz spürt man solche Tendenzen. Ein Beispiel ist das Wurmplakat der SVP. So etwas gibt den Bürgern eine gewisse Berechtigung, selber diesen Wortschatz zu benutzen. Umso mehr wäre die Ausweitung der Strafnorm ein wichtiges Zeichen! Menschen, die sich nicht als vollwertig betrachtet fühlen, würden vom Schweizer Volk eine Anerkennung bekommen. Die Signalwirkung wäre auch international.

Sie sind links, Welsche, jüdischer Herkunft und waren die zweite Frau im Bundesrat. Wie gehen Sie persönlich mit Ausgrenzung und Hass um?
Mit dem entschlossenen Kampf gegen Rassismus, Antisemitismus und Hass. Und mit dem Bewusstsein, dass man mit den Menschen über ihre echten Probleme reden muss, statt Scheinlösungen zu propagieren.

Als Bundesrätin wurden Sie heftig angefeindet.
Das gehört zum Amt. Und es ist meine Rolle, meine Vorschläge mit aller Kraft zu verteidigen. Ich habe das mit ­einer grossen Freude gemacht, weil ich an den sozialen Staat glaube, an die Gerechtigkeit, an den Einsatz von Generationen für die Gleichstellung von Mann und Frau. Aber ich habe mir immer verboten, anonyme Briefe zu lesen. Das mussten leider meine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter machen.

Sie haben nie gefragt, was drinsteht?
Nein. Zu meinem eigenen Schutz. Ich wurde aber nie öffentlich angegriffen, wegen meines Judentums etwa oder weil ich eine Frau oder Sozialdemokratin bin.

Praktizieren Sie Ihr Judentum?
Nein, gar nicht. Ich bin ­Atheistin.

Heute können viele Junge ihre eigene Identität leben – ob weltanschaulich, oder was die sexuelle Orientierung betrifft.
Oh ja – sie stehen hin und machen sich dafür stark, dass sie das machen können. Homosexuelle gab es immer, aber früher brauchte es so viel Mut, sich zu outen. Dass es da zu einer Bewegung ­gekommen ist, der Pride-­Bewegung, freut mich sehr. Die Selbstmord­rate unter jugendlichen Homosexuellen ist immer noch überdurchschnittlich hoch – eine tragische Realität! Der Schmerz der Leute ist da, wenn sie sich verstecken müssen und sich selber quälen. Ich finde es schön, dass sich heute ­viele von der Angst befreien können, etwas Falsches zu machen und ausgegrenzt zu werden. Aber es braucht ­immer noch Mut.

Sie wurden zu einer Zeit Bundesrätin, als unverheiratete Politiker es noch schwer hatten.
Verheiratet zu sein war damals fast eine Vorbedingung für eine politische Karriere.

Ruth Dreifuss persönlich

Ruth Dreifuss wurde am 9. Januar 1940 in St. Gallen geboren. Sie war 1999 die erste Schweizer Bundespräsidentin. 1993 bis 2002 stand sie dem Departement des Inneren vor. Sie brachte unter anderem die 10. AHV-Revi­sion beim Volk durch. Vor ihrer Wahl war sie Gewerkschafterin, Entwicklungshelferin und Journalistin. Am Donnerstag wurde sie 80.

Ruth Dreifuss wurde am 9. Januar 1940 in St. Gallen geboren. Sie war 1999 die erste Schweizer Bundespräsidentin. 1993 bis 2002 stand sie dem Departement des Inneren vor. Sie brachte unter anderem die 10. AHV-Revi­sion beim Volk durch. Vor ihrer Wahl war sie Gewerkschafterin, Entwicklungshelferin und Journalistin. Am Donnerstag wurde sie 80.

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Sie kamen als alleinstehende Frau nach Bundesbern, was auch Stoff für Gerüchte war. Wie gingen Sie damit um?
Cela ne les regarde pas (Das geht sie nichts an). Aber wenn ich lesbisch wäre, hätte ich mich längst geoutet. Die Meinung der Leute über mich ist für mich nur von Bedeutung, wenn es um Sachfragen und politische Projekte geht. Die Mutmassung über mich, die Sie ansprechen, habe ich nie als Hindernis zur Realisierung von Projekten betrachtet. Donc.

Schön, wenn man das mit solchem Selbstbewusstsein sagen kann!
Aber nochmals: Wenn ich lesbisch wäre, hätte ich es schon lange gesagt.

Das glaube ich Ihnen gerne. Wie wurden Sie für das Thema sensibilisiert?
Jetzt kommen wir endlich wieder zu Sach­fragen. Das interessiert mich mehr. Ich wurde in einer Zeit Gesundheitsministerin, als die Aids-Epidemie in der Schweiz auf dem Höhepunkt war.

Das war 1993.
Drei Gruppen waren hauptsächlich betroffen: Jene, die auf Bluttransfusionen angewiesen sind, Drogenkonsumenten und homosexuelle Männer. Über mein Amt kam ich in Kontakt mit Homosexuellen-Gruppen und ihren Problemen. Die Frage war, wie man sie vor der Krankheit schützen kann, aber auch, wie man sie vor Diskriminierung schützen kann. Die sexuelle Orientierung, zu der sie nicht immer stehen konnten, die Diskriminierung wegen Aids – sie konnten zum Beispiel keine Lebensversicherung abschliessen und verloren ihre Jobs.

Womit wir wieder bei der Antirassismus-Strafnorm sind.
Der Artikel ist sehr wichtig als Signal für Leute, die sich schämen, die sich unwohl fühlen oder ihre Sexualität nicht ausleben können. Wenn ich die Situation der Homosexuellen auf der Welt sehe – dass sie zum Tode verurteilt werden, dass sie zwangs­umerzogen werden oder tätlich angegriffen wie zum Beispiel in Russland, dann ist das ein Weltproblem. Zum Glück ist das in der Schweiz nicht der Fall. Aber im Kleinen gibt es solche Tendenzen.

Und dafür braucht es eine Gesetzesänderung?
Was mich bewegt, ist das ­Leiden der Menschen. Wenn Menschen auf nur eine ­Eigenschaft reduziert werden, ist das die Wurzel von Diskriminierung. Dagegen muss man kämpfen.

Das Referendum zu Anti-Rassismus-Strafnorm erklärt

Die Anti-Rassismus-Strafnorm soll künftig auch Hass und Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung unter Strafe stellen. Dagegen hat ein Komitee das Referendum ergriffen und über 70‘000 Unterschriften bei der Bundeskanzlei eingereicht. Das müssen Sie über das Referendum gegen «Zensur von Schwulen-Witzen» wissen.

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