Alt Bundesrätin Calmy-Rey zum Eklat um das Rahmenabkommen
«Ich verstehe den Widerstand der Gewerkschaften»

Die ehemalige Aussenministerin Micheline Calmy-Rey spricht im Interview über die Beziehungen zur EU, das Rahmenabkommen, und zeigt sich zuversichtlich.
Publiziert: 12.08.2018 um 11:51 Uhr
|
Aktualisiert: 14.09.2018 um 19:43 Uhr
Interview: Florian Wicki und Simon Marti

BLICK: Frau Calmy-Rey, die Gewerkschaften weigern sich, mit Bundesrat Schneider-Ammann Anpassungen bei den flankierenden Massnahmen zu diskutieren. Ist ein Rahmenabkommen damit vom Tisch?
Micheline Calmy-Rey: Es geht ja nicht nur um die Acht-Tage-Regel und andere technische Massnahmen. Die EU fordert: Wir sollen ihre Regelung übernehmen. Wollen wir, dass der Schutz unserer Löhne europäischem Recht untersteht? Dass die flankierenden Massnahmen dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) unterstehen? Der EuGH hat bis jetzt die Wettbewerbsfreiheit über den Schutz der Arbeitnehmer gestellt. Wenn der Bundesrat nun genau dies erwägt, ver­stehe ich den Widerstand der Gewerkschaften.

Einfach das Gespräch zu verweigern, passt doch nicht in unser System?
Ginge es nur um die Acht-Tage-Regel, dann könnte man denken, dass die Gewerkschaften unvernünftig wären. Aber die Frage ist viel grundsätzlicher. Und zwar geht es um das angewandte Recht. Wenn die Schweiz durch ein Rahmenabkommen die Arbeitsbedingungen und Löhne der EU übernimmt, wäre dies gefährlich für den Schutz unserer Arbeitnehmer. Das Schweizer Recht schützt besser als das ­europäische. Ich bin entschieden dagegen, dass europäisches Recht sämtliche Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU regeln soll.

Der Weg zu einem Rahmenabkommen scheint verbaut. Welche Alternativen sehen Sie?
Ich habe während Jahren für den bilateralen Weg gekämpft. Er bleibt die beste Option. Kommt der bilaterale Weg an sein Ende, wäre ein Beitritt zur EU möglich. Aber die EU hat derzeit keine geeinte Aussenpolitik, Schwierigkeiten bei ­Finanz- und Wirtschaftspolitik, keine Migrationspolitik. Ich bin also zurückhaltender als früher, was diese Alternative angeht (lacht).

Die ehemalige Aussenministerin Micheline Calmy-Rey im Sonntagsblick-Interview.
Foto: Anja Wurm
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Aber ein Rahmenabkommen wird es nun in absehbarer Zeit nicht mehr geben.
Man darf sich nicht unter Druck setzen lassen. Der Brexit hat die Lage verändert. Die EU spielt die Schweiz gegen die Briten aus. Sie will rasch ein Rahmenabkommen, setzt uns unter Druck mit der Börsenäquivalenz, eben weil zugleich die Verhandlungen mit den Briten laufen. Aber es lohnt sich nicht, nach Brüssel zu rennen, um ein schlechtes Abkommen zu unterzeichnen, dessen Ziel es nur wäre, die Briten abzuschrecken.

Sie sagten vor zwei Jahren, es sei eigentlich politischer Selbstmord, vor den Wahlen noch ein Rahmenabkommen abzuschliessen. Jetzt solle man aber die Zeit nutzen, um eine Strategie zu ­entwickeln und eine einheitliche Position zu finden. Aber genau danach sieht es jetzt nicht aus.
Hat man das schon versucht? Wenn der Bundesrat festgestellt hat, dass die Verhandlungen mit der EU schwierig sind oder in eine Sackgasse führen, und zwar nicht nur aufgrund der Personenfreizügigkeit und der flankierenden Massnahmen, ergeben die Aussagen von Ignazio Cassis und Johann Schneider-Ammann durchaus Sinn. Denn so drückt sich der Bundesrat vor den Verhandlungen und schiebt die Verantwortung für das Scheitern den Gewerkschaften in die Schuhe.

Aber es wäre doch in der Verantwortung des Bundesrats, dem Volk zu erklären, dass das Abkommen nicht abgeschlossen werden kann, und nicht Sache der Gewerkschaften?
Na, na, es ist noch ein wenig zu früh, um zu sagen, dass das Rahmenabkommen nicht abgeschlossen werden kann. Denn es gibt noch Möglichkeiten, um die strittigen Fragen in den Verhandlungen zu lösen. Es wird von einem gemischten Abkommen gesprochen. Die letzte europäische Direktive über den Lohnschutz würde im Abkommen aufgenommen und auch die flankierenden Massnahmen. Somit würden unsere spezifischen Massnahmen von der EU anerkannt und der Schweizer Gerichtsbarkeit unterstellt. Ich bin überzeugt, die Schweizer Diplomaten und das Parlament sind intelligent genug, um Auswege aus dieser Sackgasse zu finden. Doch bestimmt nicht bis September. Denn dafür braucht es Verhandlungszeit. Und wenn man noch warten will, bis die Wahlen vorbei sind, vergeht schon einige Zeit.

Ist denn die heutige Situation auch eine Folge des Wechsels im EDA?
Wissen Sie, ich glaube nicht, dass man das so sagen kann. Die EU hat gerade Schwierigkeiten, das war vor einigen Jahren noch nicht so. Jetzt hat sie mit dem Brexit ausserdem Angst, dass andere Mitgliedstaaten dem Beispiel von Grossbritannien folgen könnten. Wenn das Schweizer Modell zu attraktiv ist, könnten andere Mitgliedstaaten auf die Idee kommen, auch einen bilateralen Weg gehen zu wollen. Wir haben also vor allem schlechtes Timing.

Wie war das damals, als Sie die Kontakte zu Brüssel pflegen mussten? Da hat doch die EU auch ständig die flankierenden Massnahmen kritisiert.
Die flankierenden Massnahmen waren Schweizer Recht. Dann gabs noch die Entsenderichtlinien. Dort wurde diese Acht-Tage-Regel verhandelt. Auch da war die EU nicht ganz zufrieden. Aber schluss­endlich hat man sich geeinigt. Doch die EU steckt inzwischen in ­Schwierigkeiten. Der Brexit hat die ganzen Verhandlungen deutlich schwie­riger gemacht. Aber na ja, ich habe schon immer gesagt: «Der bilate­rale Weg ist ein steiniger Weg. Mit Eis bedeckt.» Es war schon immer schwierig, ist immer noch schwierig. Aber wir haben ­immer Aus­wege gefunden. Ich bin zuversichtlich. Eine moderate Optimistin. 

Micheline Calmy-Rey

Micheline Calmy-Rey wurde 1945 in Sitten geboren. 1968 erwarb sie in Genf das Lizenziat in Politikwissenschaften. Die Sozialdemokratin politisierte ab 1981 im Genfer Grossen Rat, bevor sie 1997 in den Staatsrat gewählt wurde. Am 4. Dezember 2002 wählte die Vereinigte Bundesversammlung Calmy-Rey in den Bundesrat. Bis zu ihrem Ausscheiden aus der Landesregierung 2011 stand sie dem Aussendepartement (EDA) vor.

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KEYSTONE/GAETAN BALLY

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