Alt Bundeskanzler Gerhard Schröder zur Lage der deutschen Sozialdemokraten
«Vielleicht sollte die SPD-Spitze mal nach Bern pilgern»

Zum Ende der Ära von Angela 
Merkel legt deren Vorgänger eine nüchterne Analyse der Lage in Deutschland vor. Er ist sicher: Im nächsten Jahr gibt es Neuwahlen.
Publiziert: 11.11.2018 um 01:35 Uhr
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Aktualisiert: 07.12.2018 um 09:02 Uhr
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Christian Dorer

SonntagsBlick: Sie kennen den Job von SPD-Chefin Andrea Nahles so gut wie kein Zweiter – Sie haben ihn ja selber fünf Jahre lang gemacht. Was würden Sie an ihrer Stelle tun?
Gerhard Schröder: Der ehemalige SPD-Vorsitzende Müntefering hat mal gesagt: Das ist das schönste Amt neben dem Papst. Dieser Satz gilt heute wohl nicht mehr. Wir sehen zwei Entwicklungen in Deutschland: Zum einen wird die Linkspartei nicht stärker, in Bayern ist sie nicht mal in den Landtag gekommen; zum anderen verliert die SPD Wähler sowohl an die Union, an die FDP als auch an die Grünen. Die SPD hat versucht, grüner als die Grünen und linker als die Linken zu sein, und das hat nicht funktioniert. Die SPD muss neben sozialer Gerechtigkeit auch für wirtschaftliche Kompetenz und innere Sicherheit stehen. Daran hapert es gerade.

Der bekannte liberale Soziologe Sir Ralf Dahrendorf sprach bereits 1982 vom «Ende des sozialdemokratischen Jahrhunderts». Hatte er damit recht?
Das passte schon damals nicht, denn in den 1990er-Jahren waren sozialdemokratische Parteien in Europa ja sehr erfolgreich. Nicht nur in Deutschland, sondern auch in Frankreich, Grossbritannien oder Spanien. Und die Frage, wie man Gerechtigkeit, Solidarität und Freiheit organisieren kann in einer Welt, die aus den Fugen geraten ist, die bleibt ja aktuell und in Zukunft eine Aufgabe der Sozialdemokratie.

Die grossen sozialistischen Parteien Europas befinden sich in 
rasantem Niedergang: In Frankreich oder den Niederlanden lagen sie bei den jüngsten Wahlen bereits weit unter zehn Prozent. Was machen sie falsch?
Wir erleben überall eine Art Europäisierung des Parteiensystems. Die Gesellschaften werden heterogener und die Interessen vielfältiger. Da-runter leiden die etablierten Parteien. Das betrifft ja nicht nur die Sozialdemokraten.

Alt Bundeskanzler Gerhard Schröder: Deutschland nach Merkel braucht «einen überzeugten Europäer, einen Reformer, einen Brückenbauer, der die Gesellschaft wieder zusammenführt».
Foto: Getty Images
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Die SP der Schweiz ist mehr oder weniger stabil. Was können die deutschen von den Schweizer Genossen lernen?
Ich freue mich über jeden Erfolg der SP und habe immer guten Kontakt zu den SP-Bundesräten. Vielleicht sollte die SPD-Spitze mal nach Bern pilgern.

Persönlich

Sieben Jahre war er Bundeskanzler: Der letzte, den die deutsche Sozialdemokratie bis heute stellte. Bis ihn Angela Merkel 2005 ablöste, 
regierte Gerhard Schröder mit den Grünen. Als der damalige Ministerpräsident Niedersachsens ins neu gebaute Berliner Kanzleramt einzog, erzielte die SPD einen Wähleranteil von mehr als 40 Prozent, heute ringt sie um ihren Status als Volkspartei.

Schröders Leben ist eine sozialdemokratische Musterbiografie: Vaterlos in bescheidensten Verhältnissen aufgewachsen, machte er eine kaufmännische Lehre, studierte auf dem zweiten Bildungsweg Recht und arbeitete daneben auf dem Bau. Heute ist der Altkanzler wieder als Anwalt und Berater tätig, unter anderem für die Ringier AG, die auch SonntagsBlick herausgibt.

Sieben Jahre war er Bundeskanzler: Der letzte, den die deutsche Sozialdemokratie bis heute stellte. Bis ihn Angela Merkel 2005 ablöste, 
regierte Gerhard Schröder mit den Grünen. Als der damalige Ministerpräsident Niedersachsens ins neu gebaute Berliner Kanzleramt einzog, erzielte die SPD einen Wähleranteil von mehr als 40 Prozent, heute ringt sie um ihren Status als Volkspartei.

Schröders Leben ist eine sozialdemokratische Musterbiografie: Vaterlos in bescheidensten Verhältnissen aufgewachsen, machte er eine kaufmännische Lehre, studierte auf dem zweiten Bildungsweg Recht und arbeitete daneben auf dem Bau. Heute ist der Altkanzler wieder als Anwalt und Berater tätig, unter anderem für die Ringier AG, die auch SonntagsBlick herausgibt.

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Eine Frage, welche die SPD immer noch zerreisst, ist das Verhältnis zu den unteren Rängen der Arbeitnehmerschaft: Ihre Agenda 2010, vor allem bekannt durch deren Kernstück Hartz IV, gilt 
vielen Sozialdemokraten als 
Ursünde, die Hunderttausende linker Wähler verprellt hat. Wie stehen Sie heute zu diesen Reformen?
Einspruch! Die Agenda habe ich ja nicht alleine gemacht. Ein SPD-Parteitag hatte damals mit 90 Prozent zugestimmt. Und dann haben wir 2005 einen Bundestagswahlkampf geführt und mehr als 34 Prozent geholt. Das ist ein Ergebnis, von dem die SPD heute nur träumen kann. Das Problem ist eher ein anderes: Hätte die SPD die Agenda nach 2005 als ihr Programm akzeptiert, dann könnte sie heute deren unbestreitbaren Erfolge für sich reklamieren. Die Reformen waren damals notwendig. Wir hatten fünf Millionen Arbeitslose, und die Sozialsysteme waren nicht mehr finanzierbar. Heute haben wir in weiten Teilen Deutschlands Vollbeschäftigung, und uns geht es wirtschaftlich richtig gut. Das ist ein Erfolg von SPD-Politik, auch wenn das von Teilen der Partei bestritten wird.

Die Volksparteien werden europaweit durch populistische Bewegungen in die Zange genommen; immer mehr Wähler entscheiden sich für eine dieser extremen 
Formationen. Warum haben viele Menschen genug vom Bisherigen?
Es gibt globale Unsicherheiten, die sich auf unsere europäischen Gesellschaften auswirken. Da gibt es den Wunsch nach vermeintlich einfachen Antworten. Viele denken, man könne all diese Fragen national besser lösen. Nur: Das geht nicht mehr. Nehmen Sie die Flüchtlingspolitik, da brauchen wir eine europäische Lösung. Wenn wir über Grenzsicherung reden, dann kann das nicht alleine am Brenner oder im Tessin stattfinden – sondern wir brauchen eine Sicherung der europäischen Aussengrenzen. Und das ist eine gemeinsame Aufgabe, da können wir Italien, Griechenland oder Spanien nicht alleine lassen.

Sie haben 1998 zum ersten Mal auf Bundesebene eine Koalition mit den Grünen geführt. Bei den Landtagswahlen in Bayern und Hessen ist die einstige Alternativpartei nahe an die Ergebnisse der SPD herangerückt oder hat sie sogar überrundet. Wie lassen sich diese Erfolge erklären?
Die Grünen in Deutschland haben sich gewandelt. Sie sind keine linken Protestler mehr, sondern eine richtig konservative Partei geworden. Nehmen Sie etwa den baden-württembergischen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann, den ich persönlich schätze. Der könnte doch auch in der CDU sein! Aber für die SPD bedeutet das, dass die Grünen nicht mehr natürlicher Partner, sondern harter politischer Gegner sind.

Angela Merkel hat erklärt, nicht wieder für den Parteivorsitz und auch nicht für eine weitere Amtszeit als Bundeskanzlerin kandidieren zu wollen. Finden Sie das – insgeheim – schade?
Ohne Zweifel hat sie ihre Verdienste, und ich habe Respekt vor ihr.

Merkel hatte 2015 bei der Vorstellung Ihrer Biografie gesagt, dass es ein Fehler von Ihnen war, den Parteivorsitz abzugeben, aber an der Kanzlerschaft festzuhalten. Ist es eine Ironie der Geschichte, dass sie jetzt dasselbe tut?
Das wird für sie ein grösseres Problem, vor allem wenn Friedrich Merz neuer Vorsitzender wird. Denn die CDU ist eine Partei, die an Machterhalt orientiert ist. Da ist für einen Regierungschef der Parteivorsitz natürlich umso wichtiger. Wenn Merz Vorsitzender wird, dann will er auch Kanzler werden.

Frau Merkel wird sich also nicht bis zum Ende ihrer regulären Amtszeit halten können?
Ich gehe nicht davon aus, ich rechne mit Neuwahlen im nächsten Jahr.

Wie sehr schwächt es Deutschland, dass in Berlin eine Regierung mit Ablaufdatum sitzt?
Das ist für Europa als Ganzes schwierig, denn um die notwen­digen Reformen voranzubringen, brauchen wir jetzt ein starkes deutsch-französisches Tandem. Präsident Emmanuel Macron hat gute Vorschläge gemacht, aber es fehlt die deutsche Antwort. Ein Zurück zu nationalen Egoismen wäre ein grosser Fehler: Dann haben wir keine Chance gegen die Supermacht USA, die uns ja jetzt schon auf der Nase herumtanzt, und gegen die aufstrebende Supermacht China. Europa muss seine Interessen als Kontinent wahren. Das geht nur mit stärkerer politischer Zusammenarbeit – und da schliesse ich die Schweiz ausdrücklich 
mit ein.

Ist Angela Merkels Flüchtlings­politik der Grund für ihren Vertrauensverlust – oder hätte sich der auch sonst eingestellt?
Die Bundeskanzlerin hat damals Herz gezeigt. Als es 2015 darum ging, Flüchtlingen, die in Ungarn und Österreich warteten, in einer konkreten Notsituation zu helfen, war das richtig. Nur: Man braucht auch einen Plan. Aber den hatte sie nicht. Die Kanzlerin erklärte dann den Ausnahmezustand zum Normalzustand. Nur: Es kann nicht sein, dass Hunderttausende ohne Registrierung und Kontrolle ins Land kommen. Das hat Vertrauen gekostet. Und das hängt ihr an.

Sind derart lange Amtszeiten überhaupt gut? Bräuchte es eine Amtszeitbegrenzung wie in Frankreich oder den USA?
Zwei Perioden, acht Jahre. Ich finde, das reicht.

Welchen Regierungschef braucht Deutschland nach Merkel?
Einen überzeugten Europäer, einen Reformer, einen Brückenbauer, der die Gesellschaft wieder zusammenführt. Ich habe jetzt die männliche Form benutzt, aber es kann selbstverständlich auch wieder eine Frau sein!

Von den drei Meistgenannten – Merz, Kramp-Karrenbauer oder Spahn: Wer wäre geeignet?
Als Sozialdemokrat muss ich das jetzt sagen: niemand von denen. Aber da ja vermutlich Herr Merz neuer CDU-Vorsitzender wird, will ich so viel anmerken: Persönlich ist die damalige Gegnerschaft zwischen uns beiden vergessen. Seine Wahl würde jedoch zu einer CDU führen, die auf heutige Herausforderungen alte Antworten geben will. Nehmen Sie zum Beispiel die Frage der Integrationspolitik. Da sind wir heute viel weiter als vor 
20 Jahren!

Dennoch: Hat Deutschland seine Probleme mit radikalen Islamisten und kriminellen Ausländern nicht zu lange schöngeredet?
Sicherlich hat man zu lange geglaubt, dass Integration von al­leine funktionieren würde. Das stimmt so nicht. Aber ich will hier auch mal eine Lanze brechen für die Millionen Zuwanderer in Deutschland, die sich an die Regeln halten, arbeiten und einen positiven Beitrag zur Gesellschaft leisten. Ja, es gibt Probleme in manchen Stadtteilen von Grossstädten. Aber wir sind weit entfernt von den schlimmen Zuständen, die etwa in manchen französischen Banlieues herrschen.

Es gibt auch zahlreiche aktuelle Fälle: die Vergewaltigung einer jungen Frau in Freiburg durch mindestens acht Männer, mutmasslich Syrer; die Tötung eines jungen Mannes durch Asylbewerber in Chemnitz; arabische Clans, die in Berlin, Essen, Bremen und andernorts ihr Unwesen treiben: Was ist da zu tun?
Das sind schlimme Verbrechen, für die es nur die harte Antwort des deutschen Rechtsstaats geben darf. Und ich stehe zu dem, was ich schon im Bundestagswahlkampf 1998 gesagt habe: Wer unser Gastrecht missbraucht, für den gibt es nur eins: raus, und zwar schnell.

Vor 13 Jahren sind Sie als Bundeskanzler abgetreten. Heute ist die Welt eine andere. Würde Sie das Amt auch heute reizen?
Für mich gilt das alte Boxergesetz: «They never come back.»

Auch das Verhältnis zu Moskau ist heute ein völlig anderes: Russland provoziert mit Hackerangriffen, Nervengiftanschlägen, Fake News, der Unterstützung für Assad in Syrien. Ist Ihnen noch wohl mit Ihrem neuen Amt bei Rosneft?
Ja, natürlich, denn wir brauchen Russland nicht nur als Energielieferanten, sondern vor allem für Frieden und Stabilität in ganz Europa. Das bedeutet nicht, dass man zu Verfehlungen schweigen sollte. Aber klar ist doch, dass eine Abschottung und Isolierung Russlands nicht hilft und auch nicht funktioniert. Wir können keinen der grossen globalen Konflikte ohne Russland lösen. Und umgekehrt braucht Russland uns. Die Russen wollen doch lieber mit uns als mit den Chinesen Handel treiben und zusammenarbeiten.

Wie können Sie dank Ihrer guten Beziehungen zwischen Russland und dem Westen vermitteln?
Sie meinen mein gutes Verhältnis zu Präsident Putin? Wenn mich die Bundesregierung bittet, dann tue ich das selbstverständlich. Aber ohne offiziellen Auftrag bin ich Privatmann. Und glauben Sie mir: Es gibt bei solchen Gesprächen auch andere Themen als Politik.

Halten Sie die Sanktionen noch für angemessen?
Wissen Sie, ich habe eines in meinem politischen Leben gelernt: Vertrauen können Sie nur aufbauen, wenn Sie miteinander reden. Diese Trump-Politik, weltweit alles und jeden mit Sanktionen zu überziehen, das ist ein wirkliches Desaster.

Die SPD machte Geschichte

Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands begann ihre mehr als 150-jährige Geschichte als revolutionär-marxistische Organisation, wandte sich aber bald der Veränderung der Gesellschaft durch politische Reformen zu und wurde schliesslich zur Volkspartei. Ihren grössten Einfluss hatte sie unter den SPD-Kanzlern Willy Brandt (1969–1974, bestes Bundestagswahlergebnis von 45,8 Prozent), Helmut Schmidt (bis 1982; 42,9) und Gerhard Schröder (1998–2005; 40,9). Bei der Bundestagswahl 2017 erzielten die Sozioaldemokraten 20,5 Prozent. Die Wahlen zum Bayerischen und zum Hessischen Landtag im Oktober brachten ihr nur noch 9,7 bzw. 19,8 Prozent der Stimmen.

Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands begann ihre mehr als 150-jährige Geschichte als revolutionär-marxistische Organisation, wandte sich aber bald der Veränderung der Gesellschaft durch politische Reformen zu und wurde schliesslich zur Volkspartei. Ihren grössten Einfluss hatte sie unter den SPD-Kanzlern Willy Brandt (1969–1974, bestes Bundestagswahlergebnis von 45,8 Prozent), Helmut Schmidt (bis 1982; 42,9) und Gerhard Schröder (1998–2005; 40,9). Bei der Bundestagswahl 2017 erzielten die Sozioaldemokraten 20,5 Prozent. Die Wahlen zum Bayerischen und zum Hessischen Landtag im Oktober brachten ihr nur noch 9,7 bzw. 19,8 Prozent der Stimmen.

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