«Die Situation ist jetzt viel schlimmer!»
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Alain Berset zur Corona-Krise:«Die Situation ist jetzt viel schlimmer!»

Alain Berset im grossen Interview – darum will die Regierung die Schraube wieder anziehen
«Die Situation ist jetzt viel schlimmer!»

Gesundheitsminister Alain Berset spricht im BLICK-Interview über die Folgen der Corona-Pandemie, die Pläne des Bundesrats und den Hoffnungsschimmer Impfung.
Publiziert: 10.12.2020 um 01:15 Uhr
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Aktualisiert: 10.12.2020 um 19:56 Uhr
Interview: Sermîn Faki

Alain Berset (48) ist im Schuss – direkt aus dem Ständerat eilt er in sein Büro, um BLICK ein Interview zu geben. Denn er weiss: Die Krise zermürbt uns. Viele Menschen leiden auch psychisch unter den Folgen der Pandemie. Auch an ihm geht das nicht spurlos vorbei, wie er gesteht. Doch der Gesundheitsminister verbreitet auch Hoffnung – auf die Impfung und den Frühling.

BLICK: Herr Berset, wir alle sind nicht mehr nur coronamüde, sondern haben auch den Blues. Wie geht es Ihnen?
Alain Berset: Genauso. Ich arbeite sehr viel, das überdeckt vieles. Es geht mir recht gut, aber auch ich bin coronamüde. Fast ein Jahr Unsicherheit – das ist für uns alle hart. Dennoch bleibt uns nichts anderes übrig, als irgendwie damit umzugehen.

Bemerken Sie die gedrückte Stimmung in Ihrem Umfeld?
Natürlich drückt die Krise auf die Moral, auch wenn jeder anders reagiert. Aber es ist völlig normal, jetzt Angst zu haben, bedrückt zu sein. Wir sind in einer Pandemie! Wichtig ist, dass man diese Gefühle nicht in sich vergräbt, sondern dass man darüber spricht – mit Freunden, Familie oder Profis. Da gibt es viele Angebote. Wem es nicht gut geht, der muss Hilfe in Anspruch nehmen. Wem es gut geht, der soll Hilfe anbieten. Wir müssen füreinander da sein.

Corona drückt auf unsere Stimmung – Alain Berset besänftigt und sagt: «Es ist völlig normal, Angst zu haben.»
Foto: Niels Ackermann
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Was ist aus Ihrer Sicht der Grund, dass uns Corona aufs Gemüt schlägt? Die Unsicherheit, die Einschränkungen, die vielen Toten?
Es ist sicher eine Mischung von allem. Die Unsicherheit macht physisch und psychisch müde. Anfang Jahr, als die Pandemie neu war, fiel es uns leichter, alle Kraft zusammenzunehmen und die Situation für eine Weile auszuhalten. Jetzt ist es schwieriger – gerade im Dezember, der eigentlich ein schöner Monat des Feierns und der Familie ist. Dann kommt die Existenzangst dazu: Vielen Firmen geht es nicht gut. Die Angst, den Job zu verlieren, ist real. Aber vergessen wir nicht, dass es Licht am Ende des Tunnels gibt: Früh im Jahr starten wir mit den Impfungen. Und wir wissen: Wenn es wärmer wird, entspannt sich die Situation zusätzlich.

Licht am Ende des Tunnels? Der Bundesrat hat mit seinen Verschärfungsplänen den Tunnel 15 Kilometer länger gemacht!
Überhaupt nicht! Wenn ich vom Licht am Ende des Tunnels rede, spreche ich vom Frühling. So lange wird es leider noch dauern, und auch danach wird es noch Überraschungen und Rückschläge geben. Aber wenn die Impfung da ist, wenn sie sicher und wirksam ist, nähern wir uns besseren Zeiten. Und wir sind gut aufgestellt: Wir haben 15 Millionen Impfdosen gesichert. Die Impfungen sind gratis. Sobald die Zulassungen da sind, starten wir. Das ist doch seit langem einmal wieder eine gute Nachricht!

Zuerst wird es mit den bundesrätlichen Massnahmen noch mal schwieriger.
Weihnachten wird anders sein, das haben wir immer gesagt. Ziel ist ein normales Leben, so gut es eben geht. Doch am Abend und über die Festtage sollten wir uns nur im engsten Familienkreis bewegen. Zudem schlägt der Bundesrat zusätzliche einheitliche Regeln vor, die im ganzen Land gelten – verschiedene Sperrstunden auf kleinem Raum machen wenig Sinn. Zudem sind einheitlichere Massnahmen auch für die Bevölkerung leichter zu verstehen und umzusetzen.

Aber am letzten Freitag sahen Sie die Kantone noch in der Pflicht. Nur fünf Tage später reisst der Bundesrat das Heft an sich!
Das hat mit der sehr raschen Entwicklung der Pandemie zu tun. Noch vor zwei Wochen hätte ich Ihnen gesagt, dass wir auf Kurs sind. Die Fallzahlen sanken, ich war zuversichtlich, dass wir zu Weihnachten bei etwa 1000 Fällen am Tag landen. Vor einer Woche war ich schon deutlich skeptischer. Zwischen Samstag, als wir mit den Kantonen im Gespräch waren, und Dienstag hat sich viel verändert. Die Fallzahlen steigen ganz klar wieder. Das kann sehr rasch zu einem grossen Problem werden. Doch dann ist es zu spät, um zu handeln. Deshalb haben wir jetzt reagiert.

Alain Berset

Wahrscheinlich hat sich Alain Berset (48) nie vorstellen können, dass er einmal in einer globalen Krise an einer entscheidenden Position sitzen und zwischen Gesundheit und Wirtschaft abwägen müsse. Immerhin ist der SP-Bundesrat gut auf solche Entscheide vorbereitet: Berset studierte Politik- und Wirtschaftswissenschaften. Von 2003 bis 2011 sass er für den Kanton Freiburg im Ständerat. Am 14. Dezember 2011 wählte ihn die Bundesversammlung in den Bundesrat. Seit 2012 ist Berset Vorsteher des Departements des Innern (EDI). Er ist verheiratet und Vater von drei Kindern.

Keystone

Wahrscheinlich hat sich Alain Berset (48) nie vorstellen können, dass er einmal in einer globalen Krise an einer entscheidenden Position sitzen und zwischen Gesundheit und Wirtschaft abwägen müsse. Immerhin ist der SP-Bundesrat gut auf solche Entscheide vorbereitet: Berset studierte Politik- und Wirtschaftswissenschaften. Von 2003 bis 2011 sass er für den Kanton Freiburg im Ständerat. Am 14. Dezember 2011 wählte ihn die Bundesversammlung in den Bundesrat. Seit 2012 ist Berset Vorsteher des Departements des Innern (EDI). Er ist verheiratet und Vater von drei Kindern.

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Das tröstet die Westschweizer Kantone nicht. Sie waren schon vier Wochen im Lockdown.
Richtig. Die Westschweizer Kantone haben ihre Fallzahlen massiv reduziert. Dafür gebührt ihnen Lob. Aber sie sind immer noch auf sehr hohem Niveau – und die Fallzahlen sinken nur noch leicht. Unsere Aufgabe im Bundesrat ist es, Entscheide zu fällen, die uns immer noch Optionen lassen. Und wir sollten auch nicht vergessen, dass andere Länder mit weniger Neuansteckungen im Lockdown sind und Ausgangssperren haben. Wir haben im Vergleich dazu noch viele Freiheiten und Lebensqualität. Doch das hat einen Preis.

Hat sich der Schweizer Weg also als Sackgasse entpuppt?
Nein, aber er bedingt, dass alle diszipliniert und vernünftig mitmachen, dass wir besonders wachsam sind und bei negativen Signalen schnell reagieren. Genau das passiert jetzt. Unser Weg erlaubt es nicht, einfach weiter zuzuschauen.

Und wenn es in einer Woche noch schlimmer ist, kommt der Lockdown?
Erstens: Am Freitag entscheidet der Bundesrat über das erste Massnahmenpaket. Erst dann wissen wir, was gilt. Zweitens: Was nächste Woche passiert, hängt von der Situation ab, in der wir uns dann befinden.

Hand aufs Herz: Lässt sich der Lockdown noch verhindern?
Ich hoffe es sehr, aber es kommt auf die Entwicklung an. Man muss bedenken, die Massnahmen brauchen zwei Wochen Zeit, bis sie Wirkung zeigen. Meine grösste Sorge ist, dass uns die Pandemie über die Festtage komplett entgleitet. Das könnte das Gesundheitssystem nicht mehr stemmen. Ich war in letzter Zeit in mehreren Spitälern. Im März wurde dem medizinischen Personal applaudiert. Aber: Die Situation ist jetzt viel schlimmer. Jetzt laufen diese Leute auf dem Zahnfleisch.

FDP und auch SP fordern klare Kriterien und Grenzwerte für Schliessungen und Öffnungen. Wäre das nicht der bessere Weg?
Klare Indikatoren wie der R-Wert, die Fallzahlen, die Auslastung der Intensivstationen – einverstanden, damit arbeiten wir auch schon lange. Feste Grenzwerte scheinen nicht zielführend.

Warum? Diese brächten Berechenbarkeit.
Erinnern Sie sich, wie wir im Frühsommer den Grenzwert zur Bestimmung eines ausländischen Risikogebietes auf 60 Neuansteckungen pro 100’000 Einwohner festgelegt haben? Stellen Sie sich vor, wir hätten diesen auch auf die Schweiz angewendet und Massnahmen davon abhängig gemacht. Wir wären seit Wochen im Lockdown! Fixe Grenzwerte würden uns jede Flexibilität nehmen. Bleiben wir lieber bescheiden, versuchen das Beste und vergessen wir nicht: Wir haben Grund zur Hoffnung.

Blick TV ist live dabei

Am heutigen Aktionstag «Darüber reden. Hilfe finden.» berichtet Blick TV ab 8 Uhr ausführlich über Themen rund um die psychische Gesundheit in Corona-Zeiten.
Die Highlights:
10 Uhr: Diskussionsrunde mit Senioren und Expertinnen
11.30 Uhr: Fachleute beantworten Fragen der BLICK-Leser
14 Uhr: Talk mit Jugendlichen und Experten

Dazu begleiten wir Bundesrat Alain Berset, wenn er die Dargebotene Hand in Bern besucht, präsentieren einen neuen Corona-Song, reden mit Prominenten über ihre Krisenbewältigung und vieles mehr.

Auf Blick.ch und in der App

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Damit es uns allen besser geht

Viele Menschen in der Schweiz leiden auch seelisch unter den Auswirkungen der Corona-Krise. Deshalb initiiert das Bundesamt für Gesundheit (BAG) den Aktionstag «Darüber reden. Hilfe finden». Er findet am 10. Dezember 2020 statt.

Die Hilfsorganisationen Pro Mente Sana, Dargebotene Hand, Pro Juventute, Pro Senectute, Caritas und das Schweizerische Rote Kreuz widmen sich gemeinsam mit vielen weiteren Akteuren den verschiedensten Aspekten des Themas psychische Gesundheit. Menschen in schwierigen Situationen sollen so Solidarität erfahren und über konkrete Hilfsangebote informiert werden. Der Tag sensibilisiert auch die Gesamtbevölkerung dafür, im Umfeld aufmerksam zu sein und Hilfe zu leisten.

BLICK macht dieses wichtige Thema zum Schwerpunkt und berichtet vor, während und nach dem Aktionstag ausführlich darüber.

Weitere Informationen unter https://bag-coronavirus.ch/hilfe/

Viele Menschen in der Schweiz leiden auch seelisch unter den Auswirkungen der Corona-Krise. Deshalb initiiert das Bundesamt für Gesundheit (BAG) den Aktionstag «Darüber reden. Hilfe finden». Er findet am 10. Dezember 2020 statt.

Die Hilfsorganisationen Pro Mente Sana, Dargebotene Hand, Pro Juventute, Pro Senectute, Caritas und das Schweizerische Rote Kreuz widmen sich gemeinsam mit vielen weiteren Akteuren den verschiedensten Aspekten des Themas psychische Gesundheit. Menschen in schwierigen Situationen sollen so Solidarität erfahren und über konkrete Hilfsangebote informiert werden. Der Tag sensibilisiert auch die Gesamtbevölkerung dafür, im Umfeld aufmerksam zu sein und Hilfe zu leisten.

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