Abtretender Migrationschef Mario Gattiker
25'000 Asylgesuche sind im nächsten Jahr möglich

Ende Jahr ist Schluss: Mit mehrfacher Verspätung geht Migrationschef Mario Gattiker (65) in Rente. Nicht, ohne einen Ausblick auf das Asyljahr 2022 zu geben. Und ganz aus der Bundesverwaltung verabschieden wird sich Gattiker nicht, wie er in seinem Noch-Büro verrät.
Publiziert: 30.12.2021 um 00:32 Uhr
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Aktualisiert: 30.12.2021 um 07:12 Uhr
Interview: Pascal Tischhauser

Blick: Herr Gattiker, Sie galten mal als oberster Bademeister im Land.
Mario Gattiker:
Sie sprechen wohl das Schwimmbadverbot von 2013 in Bremgarten an. Damals haben wir mit der Gemeinde eine Regelung getroffen, die zu wenig durchdacht war. Weil sich Badegäste gestört fühlten durch Asylsuchende, haben wir deren Zahl im Schwimmbad beschränkt. Dieser Eingriff in die Freiheitsrechte war falsch. Das Beispiel zeigt, wie herausfordernd die Verankerung von Asylunterkünften in den Gemeinden ist.

In Ihrer Anfangszeit als Chef ging vieles schief. Warum lief beispielsweise in der aargauischen Gemeinde Bettwil eine Gemeindeversammlung aus dem Ruder?
Wir hatten die Bevölkerung zu wenig mitgenommen. Aber wir haben viel daraus gelernt. Seither haben wir Gemeinden und Kantone immer auf Augenhöhe einbezogen. Und wir haben gelernt, dass es baurechtliche Erleichterungen braucht, damit man in einer Krise zu Asylunterkünften kommt. Dem haben wir in der späteren Asylreform Rechnung getragen. Erst aber musste noch eine missglückte Reorganisation im damaligen Bundesamt für Migration rückgängig gemacht werden. Die Mitarbeitenden mussten wieder wissen, was ihre Aufgabe ist, damit sie ihren Job gut machen können.

Die Asylreform wurde 2016 mit 67 Prozent Ja-Stimmen klar angenommen. Sie brachte schnellere Verfahren. Es ist ruhiger geworden.
Es ist nicht immer so ruhig. Aber aktuell haben wir tiefe Asylzahlen in der Schweiz. Bis Ende Jahr werden wir etwa 14’500 Asylgesuche verzeichnen. Dies hat mit Corona zu tun, aber auch mit Massnahmen an der Schengen-Aussengrenze – wie zum Beispiel dem Griechenland-Türkei-Deal. Die tiefen Zahlen sind zudem das Ergebnis unserer Migrationspolitik. Wir wollen jenen Flüchtlingen Schutz bieten, die ihn brauchen, und unattraktiv sein für Migrantinnen und Migranten, die keine Asylgründe haben. Die hohe Schutzquote zeigt, dass uns dies gut gelingt.

Staatssekretär Mario Gattiker blickt mit Blick auf seine Zeit im Staatsekretariat für Migration zurück. Nicht immer war es einfach.
Foto: Thomas Meier
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Migrationschef im Unruhestand

Seit 2015 leitet Mario Gattiker (65) das Staatssekretariat für Migration. Jetzt ist Schluss. Per 31. Dezember geht Gattiker in Pension. Der Jurist und Familienvater hat eine lange Karriere in der Bundesverwaltung hinter sich. 2001 war er als leitender Sekretär der Eidgenössischen Ausländerkommission in die Verwaltung eingestiegen. Ganz los kommt er von Bern aber nicht: Im Auftrag des Justizdepartements soll er Lösungen für den EU-Knatsch finden.

Thomas Meier

Seit 2015 leitet Mario Gattiker (65) das Staatssekretariat für Migration. Jetzt ist Schluss. Per 31. Dezember geht Gattiker in Pension. Der Jurist und Familienvater hat eine lange Karriere in der Bundesverwaltung hinter sich. 2001 war er als leitender Sekretär der Eidgenössischen Ausländerkommission in die Verwaltung eingestiegen. Ganz los kommt er von Bern aber nicht: Im Auftrag des Justizdepartements soll er Lösungen für den EU-Knatsch finden.

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Sie meinen …
… dass über 60 Prozent der Asylsuchenden Asyl oder ein anderes Aufenthaltsrecht erhalten. Es stellen also mehrheitlich Menschen ein Asylgesuch bei uns, die tatsächlich in ihrer Heimat bedroht sind. Das hat viel mit den beschleunigten Verfahren zu tun. Wir haben ja schon 2013 die 48-Stunden-Verfahren für Gesuche von Personen aus dem Balkan eingeführt, die keine Aussicht auf Schutz hatten. Später haben wir Fast-Track-Verfahren für Gesuche aus West- und Nordafrika eingeführt. Diese Beschleunigung zeigte rasch Wirkung.

Mit wie vielen Asylgesuchen rechnen Sie 2022?
Wie gehen von etwa 15'000 neuen Asylgesuchen aus. Aber: Es gibt eine etwas höhere Wahrscheinlichkeit als 2021, dass ein Szenario mit bis zu 25'000 neuen Gesuchen im 2022 eintritt.

Was wären die Voraussetzungen dafür?
Wenn sich die Corona-Lage ab dem Frühling entschärfen sollte, was wir ja alle hoffen, bremst das Virus die Migration weniger als jetzt. Höhere Zahlen wären aber auch eine Folge davon, dass auf der zentralen Mittelmeerroute zwischen Nordafrika und Italien wieder mehr Menschen unterwegs sind. Schon in diesem Jahr sind die Anlandungen in Italien gestiegen.

Corona hat die Migration also gebremst. Erwarten Sie so etwas wie einen Nachholeffekt?
Die politische Instabilität steigt in vielen Ländern, weil die Pandemie die wirtschaftliche Not verschärft hat. In Afrika hat sie bereits zugenommen. Äthiopien ist am Rand eines Bürgerkriegs. Das Land liegt in einer Region, in der etwa fünf Millionen Flüchtlinge leben. Auch die Lage in Libyen ist höchst instabil. Allein in Westafrika hatten wir dieses Jahr drei Staatsstreiche: in Mali, im Tschad und in Guinea. Es könnten also Situationen entstehen, vor denen Menschen fliehen. Dann würden die Gesuchszahlen steigen. Zudem verschärfen der Klimawandel und die demografische Entwicklung gerade in Afrika den Abwanderungsdruck.

Afghanische Asylsuchende in der Schweiz

In der Schweiz wurden bis Ende Mai dieses Jahres bereits 776 neue Asylgesuche von Menschen aus Afghanistan eingereicht. Das Staatssekretariat für Migration (SEM) sprach bis zu diesem Zeitpunkt 140 Asylgewährungen und 599 Ablehnungen aus – die vom letzteren Entscheid Betroffenen wurden jedoch alle vorläufig aufgenommen. Damit weisst die Schweiz im europäischen Vergleich die höchste Schutzquote für afghanische Asylsuchende auf.

Eine Rückführung nach Afghanistan findet laut SEM nur dann statt, wenn sie zumutbar, zulässig und möglich ist. Jedes Asylgesuch werde individuell untersucht und persönliche Umstände fliessen in die Entscheidung mit ein. Rückführungen waren während der Pandemie zeitweise nicht möglich, sodass 2020 keine Wegweisungsvollzüge durchgeführt wurden. 2019 wurden zuletzt sechs Personen nach Afghanistan zurückgebracht.

In der Schweiz wurden bis Ende Mai dieses Jahres bereits 776 neue Asylgesuche von Menschen aus Afghanistan eingereicht. Das Staatssekretariat für Migration (SEM) sprach bis zu diesem Zeitpunkt 140 Asylgewährungen und 599 Ablehnungen aus – die vom letzteren Entscheid Betroffenen wurden jedoch alle vorläufig aufgenommen. Damit weisst die Schweiz im europäischen Vergleich die höchste Schutzquote für afghanische Asylsuchende auf.

Eine Rückführung nach Afghanistan findet laut SEM nur dann statt, wenn sie zumutbar, zulässig und möglich ist. Jedes Asylgesuch werde individuell untersucht und persönliche Umstände fliessen in die Entscheidung mit ein. Rückführungen waren während der Pandemie zeitweise nicht möglich, sodass 2020 keine Wegweisungsvollzüge durchgeführt wurden. 2019 wurden zuletzt sechs Personen nach Afghanistan zurückgebracht.

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Aktuell kommen an unserer Ostgrenze besonders viele Afghanen in die Schweiz. Die Asylgesuche von Afghanen steigen. Warum?
Corona hat die Balkanroute Richtung Westeuropa blockiert. Diese Blockade ist im Sommer weggefallen. Wir sehen eine grosse Zahl von Migrantinnen und Migranten, die Griechenland verlassen und nach Westeuropa weiterwandern. Es sind vor allem syrische Staatsangehörige, aber auch Afghanen, die in Griechenland oft Schutz bekommen haben. Dies, weil die Integration der Flüchtlinge in Griechenland ungenügend ist.

Und die Afghanen wollen vor allem zu uns?
Nein, die Hauptzielländer sind Deutschland, Frankreich und Grossbritannien, weil es dort grosse Diasporas gibt. Diejenigen, die nach Deutschland reisen wollen, zweigen in Österreich nach Norden ab. Diejenigen, die nach Frankreich oder Grossbritannien möchten, passieren die Schweiz. Sie stellen meist kein Asylgesuch, sondern reisen rasch weiter. Einsperren können wir diese Migranten laut geltendem Recht ja nicht. Also bemühen sich das Grenzwachtkorps und die St. Galler Kantonspolizei im Rheintal um eine möglichst gute Kontrolle und die Einhaltung der Einreisebestimmungen.

Aber eigentlich müsste doch Österreich die illegale Einreise in die Schweiz verhindern, nicht?
Österreich trifft auf seinem Staatsgebiet auch Massnahmen. Doch wir müssen in Betracht ziehen, dass Österreich viel höhere Asylzahlen zu bewältigen hat als die Schweiz. Schon Mitte Dezember verzeichnete es 39'000 Asylgesuche. Solche Zahlen hatten wir während der Flüchtlingskrise 2015 letztmals. Und eben: Viele Migranten wandern durch Österreich, ohne ein Gesuch zu stellen.

Warum hat Österreich viel höhere Asylzahlen?
Österreich ist für viele Migranten auf der Balkanroute das erste Schengen-Land, in dem sie sich vorstellen können, zu bleiben. Es hat funktionierende Asylverfahren, ein Sozialhilfesystem während des Asylverfahrens und bietet Integrationsleistungen. Zudem gibt es bereits grössere Diasporas von Syrern und Afghanen.

Genau bei der Aufnahme von afghanischen Flüchtlingen wirft das UNHCR der Schweiz vor, die Hände in den Schoss zu legen. Während andere Staaten sich an der Neuansiedlung von 38'500 Flüchtlingen engagierten, täten wir nichts.
Hier werden Fakten durcheinandergebracht. Mehr als 37'000 der 38'500 Personen, von denen hier die Rede ist, sind während des Umsturzes evakuiert worden. Auch die Schweiz hat fast 400 Personen aus Afghanistan evakuiert. Das hat aber nichts mit Resettlement zu tun. Ein neues Resettlement-Programm der EU für Vertriebene, das nach der Machtübernahme durch die Taliban einsetzt, gibt es nicht.

Aber …
… bitte lassen Sie mich das klarstellen: Wir nehmen jedes Jahr Flüchtlinge im Rahmen unseres Resettlement-Programms in der Schweiz auf. Aber nicht Afghaninnen und Afghanen, die schon lange in Pakistan oder im Iran leben. Unsere Priorität liegt bei Flüchtlingen aus dem Syrien-Konflikt. Wir können so den Libanon und die Türkei entlasten. Dasselbe gilt für Ägypten, wo sich viele Migrantinnen und Migranten vom Horn von Afrika aufhalten. Das Ziel ist, dass verletzliche Personen nicht weiterreisen müssen und bei uns Schutz finden. Es hat also eine Wirkung auf die Migrationsströme Richtung Schweiz.

Das hat man aber nicht so kommuniziert.
Das wurde vom Bundesrat beschlossen und auch kommuniziert. Die Prioritäten unserer Resettlement-Politik werden diskutiert und abgestimmt mit den Kantonen und den Gemeinden. Der Bundesrat hat aber immer gesagt, dass er die bisherigen Prioritäten überprüft und allenfalls zusätzliche Resettlement-Plätze spricht, wenn sich die Situation ändert. Zum Beispiel, wenn es international koordinierte Resettlement-Programme gäbe für Afghaninnen und Afghanen, die nach der Machtübernahme der Taliban in die Nachbarländer geflüchtet sind. Das ist bisher nicht der Fall. Wissen Sie, wo der Bedarf aktuell am grössten ist?

Sie werden es mir gleich sagen.
Die humanitäre Lage in Afghanistan ist prekär, über 75 Prozent der Bevölkerung sind von Hilfsleistungen abhängig. Der Fokus des Bundesrats und der gesamten europäischen Staatengemeinschaft liegt deshalb auf der humanitären Hilfe vor Ort. Weil es ums Überleben geht. Das hat jetzt Priorität, und das sehen alle europäischen Staaten so.

Und weshalb widerspricht das UNHCR den Aussagen von Justizministerin Karin Keller-Sutter?
Das wurde aufgebauscht und lässt sich leicht erklären. Die Aussage der Justizministerin bezog sich auf die aktuelle Situation und nicht auf Afghaninnen und Afghanen, die seit Jahren oder Jahrzehnten in den Nachbarländern leben. Das UNHCR sucht aber auch für diese Personen Resettlement-Plätze. Schauen Sie: Das UNHCR muss jedes Jahr versuchen, 1,5 Millionen Flüchtlinge neu anzusiedeln. Nur für 200'000 bis 300'000 dieser Menschen findet es normalerweise einen neuen Platz. Staaten wie Australien können dank ihrer Insellage hier besonders grosszügig sein. In Europa müssen wir diese Neuansiedlungen aber mit dem Zustrom an Asylsuchenden koordinieren, die ihr Asylgesuch bei uns stellen. Darum müssen wir Prioritäten setzen: Iran und Pakistan sind vergleichsweise stabile Staaten. In anderen Regionen ist die Situation für die Geflüchteten viel prekärer.

Ein anderes Thema: Am 1. Januar haben wir die volle Freizügigkeit mit Kroatien. Den Vertrag dazu haben Sie noch ausgehandelt.
Stimmt, als wir 2013 die Verhandlungen führten, war es möglich, mit der EU bei der Ausdehnung der Personenfreizügigkeit auf Kroatien eine sehr gute Lösung zu finden. Sie beinhaltete eine lange Übergangsfrist und eine Ventilklausel, die wirksamer wäre als eine Zuwanderungsbremse. Seit dem Brexit ist es aber generell schwieriger geworden, bei der Personenfreizügigkeit mit der EU Lösungen in beiderseitigem Interesse zu finden.

Neu haben Sie ja ein Mandat des Bundesrats, das die Beziehungen zur EU betrifft. Worum geht es da?
Der Bundesrat hatte das Justizdepartement (EJPD) beauftragt, darzustellen, wo es im Bereich der bilateralen Verträge Rechtsunterschiede zwischen uns und der EU gibt. Das EJPD wurde beauftragt, diese Arbeiten weiter zu vertiefen, auch unter Einbezug der Kantone und Sozialpartner. Das EJPD hat mich nun mit dieser Aufgabe betraut. Es ist also kein Mandat gegen aussen. Die Federführung für das Europadossier liegt beim EDA, und Verhandlungen mit Brüssel sind Sache von Staatssekretärin Livia Leu.

Wie sehen Sie nach dem Aus fürs Rahmenabkommen die Chance, mit Brüssel doch noch zu einer Lösung zu kommen?
Der Bundesrat hat die Verhandlungen mit der Europäischen Union beendet, weil das erzielte Ergebnis in den wichtigen Punkten für ihn ungenügend war und er es auch für nicht mehrheitsfähig hielt. Er führt derzeit Beratungen über das weitere Vorgehen im Europadossier und wird darüber zu gegebener Zeit kommunizieren.

Das war jetzt wenig konkret.
Wie gesagt, die Verhandlungen mit Brüssel fallen nicht in meinen Zuständigkeitsbereich.

Dann kommen wir doch zu Ihrem Zuständigkeitsbereich: Sie eröffnen zusammen mit Partnern noch ein Beratungsbüro. Was für eins?
Es ist eine kleine Gruppe von befreundeten Experten aus Politik, Recht und Wissenschaft. Wir möchten unsere vielfältigen Erfahrungen im Bereich der Migrationspolitik weitergeben. Unser Ziel ist es, bei Bedarf Regierungen, Behörden und Organisationen mit unserem Fachwissen zu unterstützen.

Dann wird es also nichts damit, mehr Zeit in Ihrem Ferienhaus im Süden zu verbringen?
Man kann ja auch vom Ferienhaus aus arbeiteten (lacht). Ich habe sicher nicht vor, im bisherigen Ausmass weiterzumachen. Ich freue mich darauf, wieder einmal ein Buch zu lesen und mehr Zeit mit meiner Frau zu verbringen. Aber es ist doch schön, in den Jahren, in denen man noch fit ist, am einen oder anderen Projekt mitzuarbeiten. Ich habe mich jahrzehntelang mit Migration beschäftigt, weil mich die Thematik interessiert und nicht, weil ich Karriere machen wollte. Migration gehört zu den grossen Herausforderungen unserer Zeit. Ich möchte weiterhin mithelfen, Grundlagen für gute Lösungen zu erarbeiten. Darauf freue ich mich.

«Ein positives Beispiel auch für andere Länder»
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SEM über Asylverfahren:«Ein positives Beispiel auch für andere Länder»
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