«Sie leben vom Applaus des Publikums»
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Psychologe über Show-Stars:«Sie leben vom Applaus des Publikums»

Warum Show-Stars besonders anfällig für Verschwörungstheorien sind – ein Psychologe erklärt
«Sie leben vom Applaus des Publikums»

Was treibt erfolgreiche Künstler plötzlich an, Verschwörungstheorien zu verbreiten? Entwicklungspsychologe August Flammer erklärt die Gründe im BLICK-Interview.
Publiziert: 12.10.2020 um 23:08 Uhr
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Aktualisiert: 27.10.2020 um 18:27 Uhr
Interview: Flavia Schlittler

Schlagerstar Michael Wendler (48) sorgte mit einem Instagram-Post für grosse Verwirrung. «Ich werfe der Bundesregierung bezüglich der angeblichen Corona-Pandemie und den daraus resultierenden Massnahmen grobe und schwere Verstösse gegen die Verfassung und das Grundgesetz vor», schrieb er letzten Donnerstag. Auch gegen TV-Sender schiesst der «Egal»-Sänger: «Nahezu alle Fernsehsender, inklusive RTL, machen sich mitschuldig, sind gleichgeschaltet, politisch gesteuert.»

BLICK: Was ist mit Michael Wendler in so kurzer Zeit passiert, dass er sich radikalisierte und ihm sogar gestoppte Werbedeals im Millionenbereich egal sind?
August Flammer:
Er scheint in einer persönlichen oder wirtschaftlichen Krise zu stecken. Mit der Einnahme einer Extremposition versucht er womöglich, sich vor einem Absturz zu retten oder sein Publikum mit einer mutigen Stellungnahme zu beeindrucken und zu behalten. Möglicherweise weiss er bei kühler Überlegung durchaus, dass das Virus gefährlich und hochansteckend ist und dass die empfohlenen Massnahmen sinnvoll sind. Doch bei grosser emotionaler Belastung verlieren Menschen manchmal den Überblick und vertreten Meinungen, die ihnen später selbst peinlich sind.

Nun verliert er einen Auftrag nach dem anderen, RTL stellt sich gegen ihn. Das auf dem Zenit seines Erfolgs. Denken Sie, er ist sich der Konsequenzen nicht bewusst – oder ist es ihm schlicht egal?
Es wirkt wie eine irrationale Flucht nach vorn, weg von den wirklichen Problemen. Herr Wendler hat ja schon mehrere Male Glück gehabt, im letzten Moment einem Schlamassel zu entkommen. Und jetzt vertraut er wohl noch einmal darauf. Auf jeden Fall könnte es ihm gelingen, neue Themen aufs Tapet zu bringen und so sowohl sich selbst als auch sein Publikum von unangenehmen Sachen abzulenken.

Michael Wendler schmiss seinen Job als Juror bei «Deutschland sucht den Superstar» hin – er vertraue dem Sender RTL nicht mehr, unzensierte Inhalte zu bieten.
Foto: Instagram
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Wie kann jemand, der sich so radikal äussert, wieder zur Vernunft gebracht werden?
Gegen rationale Argumente sind solche Leute meistens resistent. Sie hängen mit ihrer ganzen Identität in ihren abstrusen Behauptungen. Davon abzulassen wäre für sie, die ja immer den öffentlichen Applaus suchen, eine schmähliche Niederlage. Da spart man sich die Energie für einen Belehrungsversuch besser. Helfen würde, solche Leute mit ihren Aussagen zu ignorieren, aber das bringt man allein nicht wirkungsvoll zustande.

Wendler ist nicht der Einzige. Auch die Komiker Marco Rima, Rob Spence und Andreas Thiel nahmen an einer Anti-Corona-Demo teil. Spence lieferte sich danach einen Streit mit Komiker Patrick Frey, der die drei «Macho-Komiker» nannte, gegenseitig will man sich anzeigen. Weshalb liegen die Nerven bei vielen Anhängern abstruser Theorien so blank?
Wer seine Hoffnung nicht abzustürzen auf eine so abstruse Theorie aufbaut, für den sind alle, die anders denken, gefährliche Gegner. Die anderen dürfen nicht recht haben, sie sollen schweigen.

Marco Rima äussert sich aktuell in einem Video, dass es zu einem Impfzwang kommen könnte: «Das geht so schnell, und zack, sind wir in einer Diktatur.»
Die prinzipielle Angst vor einem Impfzwang kann ich nachvollziehen, auch wenn ich sie nicht teile. Es geht dabei für einige Leute um die Bedrohung der eigenen Unversehrtheit. Wenn man bedenkt, dass etwas Fremdes in die eigenen Blutbahnen gespritzt wird, kann man schon zurückhaltend werden. Aber man muss dann eine Kosten-Nutzen-Rechnung machen. Doch schon jetzt hierzulande von einer Diktatur zu sprechen, ist reine Angst- und Panikmache.

Komiker und ein Schlagerstar – Menschen aus der Unterhaltungsbranche scheinen offener zu sein für Verschwörungstheorien.
Gemeinsam ist ihnen auf jeden Fall, dass sie vom Rampenlicht und dem Applaus des Publikums leben. Und diesem Applaus muss man immer wieder Futter geben, das manchmal verdaulich ist und manchmal nicht. Was man öffentlich sagt, muss eben sowohl beim Publikum ankommen als auch der eigenen rationalen Kritik genügen. Manchmal gelingt nur eins von beiden.

Leiden diese Menschen unter einer Corona-Psychose?
Dieser Begriff ist in diesem Zusammenhang ein Missbrauch eines Begriffs aus der psychopathologischen Terminologie. Was man höchstens sagen kann, ist, dass bei Leuten, die psychotisch veranlagt sind, unter extremem Stress eine akute Psychose ausbrechen kann. Aber das ist im Corona-Kontext sicher selten.

Es fällt auf, dass sich vor allem prominente Männer als Corona-Skeptiker outen, bis anhin keine Frau. Woran liegt das?
Das gründet oftmals in patriarchalischen Strukturen. Noch heute definieren sich viele Männer durch ihren Beruf und ihre öffentlich sichtbare Karriere. Sehen sie sich darin bedroht, können sie ihren vermeintlichen Rollen der Starken, der Unbeirrbaren oder auch der Ernährer nicht mehr gerecht werden. Es folgen Existenzangst, Kontrollverlust und Bedrohung der eigenen Ehre. Aus einer solchen Situation sucht man natürlich Auswege; lautstarker Corona-Leugner zu werden, ist nur einer davon. Frauen gehen häufig entspannter mit Job- und Karriereverlust um, da sie sich weniger nur dadurch definieren. Aber auch sie sind nicht vor irrationalen Ausfällen gefeit.

Mit 82 noch mal an die Uni

Auch mit 82 Jahren wird August Flammer nicht müde, Neues zu lernen. Aktuell studiert er Musikwissenschaft an der Universität Bern. Als Professor der Entwicklungspsychologie verfasste er fünf Bücher, bei weiteren fünf wirkte er mit. Durch sein Fachwissen ist er eine wichtige Stimme für psychologische Einschätzungen und Erklärungen. Flammer, der begeisterte Hobbysänger, ist Vater von zwei Söhnen und einer Tochter sowie Grossvater von vier Enkeln. Mit seiner Gattin Silvia (79) ist er seit 54 Jahren verheiratet, das Paar lebt in Bolligen im Kanton Bern.

zvg

Auch mit 82 Jahren wird August Flammer nicht müde, Neues zu lernen. Aktuell studiert er Musikwissenschaft an der Universität Bern. Als Professor der Entwicklungspsychologie verfasste er fünf Bücher, bei weiteren fünf wirkte er mit. Durch sein Fachwissen ist er eine wichtige Stimme für psychologische Einschätzungen und Erklärungen. Flammer, der begeisterte Hobbysänger, ist Vater von zwei Söhnen und einer Tochter sowie Grossvater von vier Enkeln. Mit seiner Gattin Silvia (79) ist er seit 54 Jahren verheiratet, das Paar lebt in Bolligen im Kanton Bern.

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