Bühne frei für die Alten
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Uraufführung von «Addio Amor»:Bühne frei für die Alten

Uraufführung von «Addio Amor»
Ein Buena Vista Social Club fürs Theater

Urs Bihler, Maja Stolle und Siggi Schwientek: Das Theaterstück «Addio Amor» bietet ein Wiedersehen mit altbekannten Gesichtern der Bühnenkunst. Und stellt nebenbei die Frage nach dem Umgang mit Schauspielerinnen und Schauspielern im Ruhestand. Ein Probenbesuch.
Publiziert: 28.11.2021 um 19:08 Uhr
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Aktualisiert: 29.11.2021 um 09:42 Uhr
Drinnen der Abschied im Alter, draussen der Abriss des Quartiers: Klaus Henner Russius in «Addio Amor».
Foto: Philippe Rossier
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Daniel Arnet

Am Anfang steht ein Artikel in der Deutschschweizer Kirchen-Zeitung «reformiert.»: «Pfarrhaus sucht neue Mieter» ist dort am 24. Mai 2018 zu lesen. Adrian Marthaler (74), Regisseur und langjähriger Kulturchef beim Schweizer Fernsehen (SRF), fühlt sich sogleich angesprochen: Über Jahre inszenierte er klassische Musik an aussergewöhnlichen Orten; und so hat er für dieses klassische Pfarrhaus eine aussergewöhnliche Idee.

Das Haus mit 13 bis 15 Wohnräumen und angebautem Saaltrakt für Arbeiten und Aufführungen liegt im trendigen Zürcher Seefeld. Theaterregisseur Klaus Hemmerle (61) wohnt in unmittelbarer Nähe. Hemmerle und Marthaler planen, aus dem Pfarrhaus eine Casa Verdi zu machen – ähnlich der 1896 vom italienischen Komponisten Giuseppe Verdi (1813–1901) gestifteten Casa di Riposo per Musicisti, dem Altersheim für rund 60 Opernsängerinnen und Musiker in Mailand (I).

Den beiden schwebt aber eine Residenz für Sprechtheaterpensionäre vor. Denn Hemmerle kennt als Absolvent der Schauspielakademie Zürich die Nöte der ins Alter gekommenen Bühnenkünstlerinnen und -künstler. Und Marthaler ist der ältere Bruder des ehemaligen Zürcher Schauspielhaus-Direktors Christoph Marthaler (70) sowie Ehemann der früheren Wiener Burgtheater- und Münchner Kammerspiele-Akteurin Jessica Früh (65).

«Für alte Menschen ist Einsamkeit ein grosses Thema – ihnen sterben ständig Bezugspersonen weg», sagt Marthaler. Da Schauspielerinnen und Schauspieler ein grosses Netzwerk haben, bleiben ihnen allerdings im hohen Alter noch einige Beziehungen. Und die könnten sie im ehemaligen Pfarrhaus pflegen. Mehr noch: «Sie könnten in Austausch mit dem Quartier treten», sagt Hemmerle, «und Theaterworkshops veranstalten.»

Aus Bauprojekt wird Theaterstück

Doch aus der Idee wird nichts: «Wir hatten keine aussagekräftige Evaluation durchgeführt oder durchführen lassen», sagt Marthaler. Und so habe es eine Unsicherheit über die Bedürfnislage gegeben. Schliesslich sei das Projekt auch an finanziellen und architektonischen Belangen gescheitert, denn das denkmalgeschützte Ensemble aus Kirchgemeinde- und Pfarrhaus hätte man aufwendig umbauen müssen.

«Addio Amor», sagten Hemmerle und Marthaler zum Vorstoss – so wie sich Liebende in Verdis Oper dutzendfach verabschieden. Doch ganz beerdigen wollten sie die Idee nicht, schliesslich steckte viel Arbeit darin. Wenn der Alterssitz für Bühnenschaffende schon nicht Realität werden konnte, so sollte das Geschaffene reichen für «ein Theaterstück über das Altsein mit alten Schauspielerinnen und Schauspielern».

«Buongiorno Amor»: Der Abgesang entwickelt sich zum Auftakt einer wunderbaren Freundschaft. Hemmerle und Marthaler fragen altgediente Bühnenstars an, ob sie mitmachen wollen – und alle sagen zu: der frühere Peter-Brook-Mime Urs Bihler (77) ebenso wie die erste «Sennentuntschi»-Darstellerin Maja Stolle (78) – heute bekannt aus der SBB-Werbung – oder Frank-Castorf-Liebling Siggi Schwientek (69).

Des Weiteren dabei: die grosse Vorlesestimme Klaus Henner Russius (84), Elle-Widmann-Schüler Hansrudolf Twerenbold (82), «Besuch der alten Dame»-Darstellerin Suzanne Thommen (80) und Barbara Falter (65) aus «Herr Goldstein» von Micha Lewinsky – wer seit den 1970er-Jahren deutschsprachige Bühnen besuchte oder Filme sah, erkennt im Altersstück «Addio Amor» lauter bekannte und heiss geliebte Gesichter. Vom jahrzehntelangen theatralen Lachen und Weinen gezeichnet, ziehen sie sogar ein junges Publikum in den Bann.

«Lasst meinen Sohn aus dem Spiel!»

«Rueh da hinde! Hie isch Prob!», ruft Hansrudolf Twerenbold in den Aufführungsraum des Kulturmarkts im Zürcher Zwinglihaus. Er übt in der Kulisse einer Alterspension mit Suzanne Thommen Szenen aus dem Mundartstück «Marie und Robert» des Aargauer Schriftstellers Paul Haller (1882–1920) – und weist laut schwatzende Mitbewohnerinnen und -bewohner in die Schranken.

Haller ist ein Steckenpferd des Aargauers Twerenbold – deshalb ist diese Szene Bestandteil von «Addio Amor». Denn seit Anfang 2021 führte Autorin Katja Früh (68), Schwester von Jessica Früh, persönliche Gespräche mit allen Beteiligten und gestaltete aus diesen reichen Lebensaufzeichnungen das Drama über Abschied und Abriss. Katja Frühs Tochter Lisa Bärenbold (33) spielt darin die Pflegerin der sieben Pensionärinnen und Pensionäre.

«Es geht uns vor allem ums Aufmerksammachen von Lebensweise, Eigenheiten, Leiden und Leidenschaften, Erinnerungen und Ängsten, die unser Altsein prägen», sagt Produzent Marthaler. «Und dies durchaus nicht nur in todernster Manier, sondern auch durchtränkt mit Humor, burlesken Elementen und verrückten Eskapaden.» «Addio Amor» ist denn auch eine muntere Alters-Revue mit kraftvollen Wortgefechten und wortreichen Kraftakten.

«So eine tolle Schauspielerin warst du gar nicht», wirft Stolle Thommen an den Kopf. Schwientek schreit: «Lasst meinen Sohn aus dem Spiel!» Russius sagt derweil: «Angst vor dem Sterben? Ich bin schon lange gestorben.» Worauf Bihler mit geflügelten Worten zu beschwichtigen sucht: «Wer den Mut zur Erinnerung hat, der hat auch Zukunft.» Und alle antworten gelangweilt im Chor: «Canetti!» Da läuft was auf der Bühne!

Ein würdiger Auftritt für einen späten Applaus

«Ich vergesse immer wieder, wie alt ihr seid», sagte Regisseur Hemmerle neulich zu seiner Theatertruppe. Wenn er ihnen zuschaue, seien sie so lebendig und vital. Das verleite ihn dann zu gewagten Regieanweisungen: «Steig doch auf den Tisch, Tweri!» Und dann steht Twerenbold auf dem Stuhl, und Hemmerle denkt: Oh Gott! Nein! Er ist 82 – ich sollte nicht zulassen, dass er jetzt auf den Tisch steigt.

Hemmerle musste erkennen: Es sind alte Menschen. Sie werden schneller müde, sie müssen den Text ein bisschen öfter repetieren, und er muss mit ihnen eine ruhigere Gangart einlegen als er das bei Schauspielstudenten tun würde. «Aber es ist ein grosses Vergnügen», sagt der Regisseur mit Nachdruck. Nach den bereits ausverkauften sieben Aufführungen in Zürich folgt am 3. Juni 2022 ein Gastspiel im liechtensteinischen Schaan.

Mit dem Theater Winterthur, dem Kurtheater Baden, der Bühne Aarau und dem Theater Chur ist Marthaler zurzeit in Diskussion für weitere Auftritte im nächsten Jahr. Was der Buena Vista Social Club für in die Jahre gekommene Musiker war, könnte «Addio Amor» für Schauspielerinnen und Schauspieler aus der Schweiz werden: ein würdiger Auftritt für einen späten Applaus und ein Zeichen gegen den Jugendwahn in der Kulturszene.

Während sich die Alten auf der Bühne fetzen, dringt von draussen Baulärm rein. «Es wird alles abgerissen, wir auch», sagt die Pflegerin (Lisa Bärenbold) resigniert und fügt an: «Also dieses Haus.» Und doch könnte «Addio Amor» auch der letzte Vorhang für diese alte Garde sein. Marthaler ist sich da nicht so sicher: «Bei denen geht es weiter und weiter, bis es einfach gar nicht mehr geht.» Nur so viel: Im Theaterstück gibt es einen Todesfall – aber es ist nicht der Älteste, der stirbt.

«Addio Amor» vom 1. bis 11. Dezember 2021 im Kulturmarkt, Zürich (ausverkauft);
am 3. Juni 2022 im TAK Theater Liechtenstein, Schaan (FL); weitere Auftritte in Planung. www.addioamor.ch

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