Theologin Niederhauser kennt die Nöte der Hinterbliebenen
Darum ist das Trauern so schwer

Für Angehörige ist es ein sehr schwieriger Prozess, mit dem Suizid einer geliebten Person umzugehen. Doch es gibt Wege aus der Wut, der Ohnmacht und den Fragen nach dem Warum.
Publiziert: 28.08.2020 um 23:06 Uhr
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Aktualisiert: 04.12.2020 um 20:37 Uhr
Interview: Flavia Schlittler

Anja Niederhauser (40) ist Theologin, Psychologin und Trauerbegleiterin. Im Interview mit BLICK spricht sie über den Umgang der von Suizid betroffenen Hinterbliebenen. Weshalb es nach wie vor ein gesellschaftliches Tabuthema ist und wie mit der quälenden Frage des Warum am besten umgegangen wird.

BLICK: Weshalb ist Suizid nach wie vor ein Tabuthema?
Anja Niederhauser: Lange war er durch die Kirchen stigmatisiert. Das ist zum Glück nicht mehr so. Gesellschaftlich wird Suizid als etwas sehr Schambesetztes erlebt, über das hinter vorgehaltener Hand gesprochen wird. Einen Teil davon erkläre ich mir damit, dass Suizide sprachlos machen und man sich nicht traut, Angehörige direkt darauf anzusprechen. Aus Angst, sie noch mehr zu verletzen oder weil man einfach nicht weiss, wie man damit umgehen soll. So wird das Schweigen immer grösser.

Wie verläuft im besten Fall die Trauerverarbeitung?
Man geht davon aus, dass ein gewaltsamer Tod – und besonders ein Suizid – schwerer zu verarbeiten ist als ein natürlicher. Das muss aber nicht so sein, Trauer ist etwas sehr Individuelles. Die Einbettung in ein soziales Netz trägt zur Entlastung im Alltag bei. Dann kommt das Verarbeiten, das sehr viel Zeit braucht. Trauer kommt in Wellen und kann nach einer ersten Beruhigung wieder intensiver erlebt werden. Deswegen ist es wichtig, Trauernden Zeit zu lassen. Gerade bei Suiziden gehört auch Wut zur Trauer. Denn im Erleben der Angehörigen kann das Gefühl zurückbleiben, er oder sie «sei einfach abgehauen». Schreiben kann helfen, die Gefühle zu benennen und in einen inneren Dialog mit dem Verstorbenen zu treten, um ihm oder ihr, wenn nötig, zu verzeihen.

Theologin, Psychologin und Trauer-Coach Anja Niederhauser.
Foto: zVg

Wenn dies alles nichts hilft?
Bei extremen Gefühlen von Verzweiflung, unkontrollierbarer Wut und starken Schuldgefühlen, die nicht abebben, rate ich, unbedingt den Hausarzt oder direkt den Psychotherapeuten/die Psychotherapeutin zu kontaktieren.

Die Frage nach dem Warum quält oft ein Leben lang.
Sie drückt aus, dass etwas für uns unfassbar, unverständlich und sinnlos ist. Auf diese Frage gibt es keine befriedigende Antwort, auch kein Patentrezept. Man kann sich als Betroffener aber fragen, woher die Frage stammt: Geht es um Sinn? Manche Menschen können auch bei schrecklichen Ereignissen für sich sagen, dass etwas irgendwie einen Sinn ergibt. Andere lernen zu akzeptieren, dass auch sinnlose Dinge passieren können. Das hängt von den individuellen Vorstellungen ab. Oder geht es um Gefühle wie Scham, Schuld und Wut? Dann ist die Frage wie ein Schrei der Ohnmacht.

Was ist bei der Suizid-Trauer am schwersten?
Ein Mensch, den man liebt, beendet sein Leben mit einem Akt der Gewalt gegen sich selbst. Auch wenn man als Angehöriger ahnt, dass eine Krankheit dahintersteckte, wird dieser Gewaltakt als eine Verletzung auch der eigenen Person erlebt: Wie konntest du dir und mir das antun? Als Angehöriger fühlt man sich vom Verstorbenen abgelehnt und verlassen. Man gerät in einen inneren Konflikt zum Verstorbenen. Das ist sehr schwer: Es kommt zu einem doppelten Verlassenheitsgefühl: Der oder die Verstorbene ist nicht mehr da, und auch die innere Nähe fehlt. Diese gilt es langsam wieder aufzubauen. Das braucht Zeit. Es ist, als ob man die Liebe zur verstorbenen Person ein Stück weit neu finden muss.


Hier findest du Hilfe

Diese Stellen sind rund um die Uhr für Menschen in Krisen und für ihr Umfeld da:

Adressen für Menschen, die jemanden durch Suizid verloren haben

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