20 Jahre Poetry Slam in der Schweiz
Mit spitzen Worten ins Gefecht

Vor 20 Jahren gab es den ersten Poetry Slam in der Schweiz. Aus den Poesie­schlachten sind viele Wortkünstler hervorgegangen, die heute die Kulturszene prägen.
Publiziert: 24.03.2018 um 21:40 Uhr
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Aktualisiert: 02.11.2018 um 10:21 Uhr
Hazel Brugger (24): Die Zürcher Unterländerin gibt sich auf der Bühne gerne kämpferisch.
Foto: HMBxMedia/xMatthiasxKimpel
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Daniel Arnet

Jörg Abderhalden ist erstmals Schwingerkönig: Beim Eidgenössischen 1998 wirft der Toggen­burger im Schlussgang vom 30. August Werner Vitali vor Zehntausenden jubelnden Zuschauern im Berner Wankdorf-Stadion ins Sägemehl.

Fünf Kilometer entfernt am anderen Ende der Stadt kommt es kurz zuvor zum ersten literarischen Hosenlupf der Schweiz: Am 15. August 1998 wollen unter anderen der Schauspieler Max Rüdlinger, die Künstlerin Renata Bünter sowie die Schriftsteller Lukas Bärfuss und Raphael Urweider mit ihrer Rezitation die Konkurrenten bodigen. Gut 30 Zuschauer verfolgen den ersten schweizerischen ­Poetry Slam – wörtlich: Poesie­Schlacht – in der Projekt-Galerie Barak; die befand sich im alten Industriegebäude an der Stationsstrasse 11a, versteckt hinter dem Bahnhof Liebefeld bei Bern.

Hier im Kleinen begann vor genau 20 Jahren das, was am 10. November 2018 beim Finale der Deutschsprachigen Poetry-Slam-Meisterschaften im Zürcher Hallenstadion seinen vorläufigen Höhepunkt erreichen wird. Poetry Slam hat in der Schweiz definitiv die grosse Bühne erobert.Heute ist die hiesige Szene eine der aktivsten weltweit: Fast täglich findet in einer Bar, einem Gemeindesaal oder einem Theaterhaus von Chur bis Thun ein Slam statt. Zehntausende Zuschauer aller Generationen besuchen die Veranstaltungen jährlich.

Traditionellerweise ein ­Whiskey als Siegerprämie

Wer in den letzten zwei Dekaden an einem Schweizer Poetry Slam alleine oder im Team auf der Bühne stand und dort in den vorgeschriebenen fünf oder sechs Minuten einen eigenen Text ohne Requisiten vor wertendem Publikum erfolgreich performte, der ist jetzt ein grosser Name in der Kulturszene. Neben Bärfuss und Urweider gehören Pedro Lenz, Melinda Nadj Abonji, Jürg Halter, Ralf Schlatter, Nora Gomringer, Lara Stoll, Hazel Brugger und Gabriel Vetter zu den Schweizer Wortkünstlern, die als Slam-Poeten durchgestartet sind.

Schweiz im Zentrum der Wortschlachten

9. Poetry-Slam-Schweizer-Meisterschaften

Lara Stoll (30) war 2010 die erste Siegerin, Hazel Brugger (24) gewann 2013 – die Schweizer Meisterschaften bringen Stars hervor. Am nächsten Wochenende slammen unter anderen der letztjährige Schweizer Meister Dominik Muheim (25) und der Vize Remo Zumstein (30) um den Titel.

vom 22. bis 24. März im Casinotheater Winterthur

 

22. Deutschsprachige Poetry-Slam-Meisterschaften

Die deutschsprachige Slam-Szene gilt inzwischen noch vor der englischsprachigen als die grösste der Welt. Deshalb gibt man diesem Anlass, der erst zum dritten Mal in der Schweiz stattfindet, mit dem Zürcher Volkshaus und dem Hallenstadion als Austragungsorte viel Raum.

vom 6. bis 10. November an diversen Orten in Zürich

9. Poetry-Slam-Schweizer-Meisterschaften

Lara Stoll (30) war 2010 die erste Siegerin, Hazel Brugger (24) gewann 2013 – die Schweizer Meisterschaften bringen Stars hervor. Am nächsten Wochenende slammen unter anderen der letztjährige Schweizer Meister Dominik Muheim (25) und der Vize Remo Zumstein (30) um den Titel.

vom 22. bis 24. März im Casinotheater Winterthur

 

22. Deutschsprachige Poetry-Slam-Meisterschaften

Die deutschsprachige Slam-Szene gilt inzwischen noch vor der englischsprachigen als die grösste der Welt. Deshalb gibt man diesem Anlass, der erst zum dritten Mal in der Schweiz stattfindet, mit dem Zürcher Volkshaus und dem Hallenstadion als Austragungsorte viel Raum.

vom 6. bis 10. November an diversen Orten in Zürich

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«Coop-Chind hend mit zehni scho ihre erschte eigene iMac, und Migros-Chind hend, wenns guet chunnt, mit 25 ihre erschte eigene Big-Mac», slammt der Schaffhauser Gabriel Vetter – 2004 erster Schweizer Sieger der länderübergreifenden Deutschsprachigen Poetry-Slam-Meisterschaften. Ob Mundart oder Hochdeutsch, lustig oder ernst, gesungen oder gesprochen, gereimt oder in Prosa – egal: Der Text muss das Live-Publikum einfach packen. Gewertet wird mit Noten von 1 bis 10 oder per Applaus – jeweils eine Riesengaudi für die Zuschauer. Und der Sieger kriegt traditionellerweise eine Flasche amerikanischen Whiskey überreicht.

Ein dichtender Bauarbeiter aus Chicago als Slam-Papi

Dichterwettstreite gibt es, seit die Menschen literarisch tätig sind. Die alten Griechen kannten die Dionysien, wo man Theaterstücke gegeneinander ausspielte. Zu den Siegertexten ­gehören in der Kategorie Ko­mödie «Die Babylonier» von Aristophanes oder «Antigone» von Sophokles bei den Tragödien – sein berühmter «König Ödipus» schaffte es 427 vor Christus allerdings nur auf Platz zwei.

Im Mittelalter gab es den Sängerstreit auf der Wartburg, und im 15. und 16. Jahrhundert versuchten sich die Meistersinger zu übertönen. Selbst Goethe und Schiller lieferten sich 1779 einen sogenannten Balladenwettstreit – der «Zauberlehrling» gegen den «Taucher». In neuerer Zeit kennt man das Wettlesen um den Ingeborg-Bachmann-Preis, das seit 1977 jeden Sommer in Klagenfurt (A) stattfindet. Doch während dort eine hochdotierte Jury von Doktoren und Professoren über die Texte richtet, hat beim Poetry Slam Volkes Stimme das Sagen.

Kampf mit Worten: Poetry Slam heisst wörtlich Poesie-Schlacht.
Foto: Keystone

Der dichtende Bauarbeiter Marc Smith (69) aus Chicago (USA) ist der selbsternannte Slam-Papi. 1985 gründet er das Chicago Poetry Ensemble, mit dem er einem kulturfernen Publikum literarische Texte präsentieren will. Wichtig ist Smith, dass die Ensemble-Mitglieder ein Flair für Performance haben.1986 zieht die Truppe in den Green Mill Jazz Club, um eine neue Show aufzuziehen. Als ein Journalist telefonisch wissen will, wie die Show heisst, schaut Smith gerade ein Baseball-Spiel, bei dem «Grand Slam» ein zentraler Spielbegriff ist. «Poetry Slam», antwortet Smith spontan. Am 20. Juli 1986 geht der weltweit erste Poetry Slam in The Green Mill über die Bühne.

«Schmuddelkinder der Literatur»

Die Welle schlägt zunächst nach Finnland, Schweden und Grossbritannien über, bevor sie 1994 Deutschland erreicht. Der Berner Kunststudent Benjamin Dodell (43) geht im Sommer 1996 für eine Einzelausstellung nach Berlin und gerät in einen Poetry Slam. «Das Publikum ist total mitgegangen, hat getobt, war glücklich und auch wieder unzufrieden», erinnert sich Dodell. Er will einen solchen Anlass in die Schweiz bringen und organisiert 1998 den ersten Schweizer Poetry Slam in der Projekt-Galerie Barak von Liebefeld BE. «Wir liebten das Wilde und Spontane, eben den Slam – so wie ich es in den Berliner Kellern erlebt habe», sagt Dodell. Nach dem vierten Anlass am 9. Oktober 1999 ist aber bereits wieder Schluss.

Doch es gibt Ersatz: 1999 organisieren Matthias Burki (46) und Yves Thomi (46), Gründer des Spoken-Word-Verlags «Der gesunde Menschenversand», eine Poetry-Slam-Tour durch die Schweiz – die Autorin Melinda Nadj Abonji sowie die Journalisten Max Küng und Constantin Seibt sind mit an Bord. Und jetzt gelingt der Durchbruch. Zwar schreibt «Die Weltwoche» 1999 noch von den «Schmuddelkindern der Literatur», und «Ernst», die damalige Jugendbeilage des «Tages-Anzeigers», warnt unter dem Titel «Slam-Schlachten»: «Es ist durchaus möglich, dass der Vortragende vom Publikum von der Bühne gebuht wird.»

Hazel Brugger schmückt sich lieber nicht als Kampf-Poetin

Diese Zeiten sind vorbei. Längst geht es gesitteter zu und her, sodass die Poetry Slams auch in ehrwür­digen Häusern wie dem Casino­theater in Winterthur ZH oder dem Schauspielhaus Zürich ausgetragen werden können. Zudem hat «Poetry Slam Schweiz» bei den ­Regeln den Passus «Respect the Poet» eingefügt: «Der Respekt für die ­Poeten ist oberstes Gebot. Es wird weder gebuht noch sich lauthals über das Wetter unterhalten.»

Solche Regeln sind mit ein Grund, weshalb sich der Schweizer Poetry-Slam-Pionier Benjamin Dodell zurückgezogen hat. «Es war mir teils zu brav und zu durchschaubar», sagt er. «Es gab bald den klassischen Slammer, und es war absehbar, wie man sich auf der Bühne geben muss, damit einem das Publikum liebt.»

Ein Poetry-Slam-Star wie Hazel Brugger schmückt sich heute lieber nicht als Kampf-Poetin und präsentiert sich auf der Website stattdessen als Satirikerin bei der «Heute-Show» oder als Kolumnistin beim «Magazin». Doch ihren Durchbruch hatte sie 2013 als Poetry-Slam-Schweizer-Meisterin.

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