«Die Kühe auf dem Dach»
Vom Alpenfilm zur «True Crime Doc»

Eine abgelegene Alp, ein toter Schwarzarbeiter und eine Verbindung zum «Seefeld-Mörder»: Der Film «Kühe auf dem Dach» hätte eine Gesellschafts-Doku werden sollen – und wurde unverhofft auch zum Krimi.
Publiziert: 22.11.2020 um 11:15 Uhr
Die Alpe d'Arena im Onsernonetal: Hier spielt Aldo Gugolz' (57) neuer Dokumentarfilm «Kühe auf dem Dach», der gleichzeitig eine Bergbauernfamilie und einen tragischen Todesfall dokumentiert.
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Eliane Eisenring

Wir schreiben das Jahr 2016. Im Sommer verschwindet auf der Alpe d’Arena im Tessiner Onsernonetal ein Mann. Ein 57-jähriger Mazedonier, der auf der Alp schwarzarbeitet, macht sich auf den Weg ins Tal und kommt nicht wieder. Der Besitzer der Alp, Fabiano Rauber (41), denkt sich nichts dabei. Wenige Wochen später findet ein Wanderer den unteren Teil eines menschlichen Beins. Kurz darauf wird die Leiche des mazedonischen Schwarzarbeiters in einem Wald geborgen.

Zwischen Doku und Krimi

Mitten in dieses Chaos aus ungeklärtem Todesfall und Hochbetrieb auf der Alp gerät ein Luzerner Filmregisseur. Aldo Gugolz (57) kam im Frühling desselben Jahres auf die Alpe d’Arena, um eine Dokumentation über die dort ansässige Gemeinschaft zu drehen.

Das erste Mal besuchte Gugolz dieses abgelegene Fleckchen Erde im Jahr 1998. Er suchte dort Zuflucht, als er auf einer Wanderung von einem Gewitter überrascht wurde. Wie der Filmemacher im Gespräch mit dem SonntagsBlick Magazin erzählt, fühlte er sich von dem Ort sofort angezogen: «Ich fand die Ambivalenz dieser Alp faszinierend: Der Grat zwischen der Schönheit und der Gefährlichkeit der Natur ist sehr schmal. Und die Arbeit dort ist hart und mühsam.» Als er 2016 wiederum auf die Alpe d’Arena wanderte, beschloss er, die neuen Pächter und deren Leben auf der Alp zu porträtieren. «Ich wollte die Fragilität der Existenz dieser Menschen darstellen.»

Die Dreharbeiten waren in vollem Gange, als der Unfall sich ereignete. Und das war noch nicht alles: Die Zürcher Polizei fand heraus, dass der als «Seefeld-Mörder» bekannte Tobias K., der im Sommer 2016 einen Passanten im Zürcher Seefeld erstochen hatte, ebenfalls auf der Alpe d’Arena zu Gast war. Eine Woche bevor Nikola Hadziev, der Schwarzarbeiter, verschwand, bat Tobias K. um Arbeit auf der Alp. Fabiano Rauber fragte nicht, wer er sei oder woher er kam. «Er war froh um jede helfende Hand», so Gugolz. «Schon Hadziev hatte er eingestellt, weil er händeringend nach einem Helfer für den Sommer suchte.» So wurde der Bergbauer in einen Todesfall und die Flucht eines Kriminellen verwickelt.

Die Schuld eines Einzelnen ...

Diese Verwicklung bescherte Rauber schlimme Gewissensbisse. Der Bergbauer sah sich als mitschuldig am Tod seines Arbeiters.

In einer Szene in Gugolz' Dokumentation sitzen Rauber und sein Vater in einer Beiz in Vergeletto, dem Dorf unterhalb der Alp. Im Fernseher, der an der Wand hängt, schauen sie sich einen Bericht über Hadzievs Verschwinden an. Rauber hat feuchte Augen, er stützt den Kopf in die Hände und starrt auf den Boden. «Wenn ich es sofort gemeldet hätte, hätten sie ihn vielleicht rechtzeitig gefunden», sagt er. «Aber in meiner Situation habe ich immer so viel um die Ohren. Ich habe nicht weiter darüber nachgedacht. Das war mein Fehler. Und den kann ich mir nicht verzeihen.»

Damit war er nicht der Einzige. Der Wortführer der Gruppo d’Integrazione Locarno, die sich für Immigranten im Tessin einsetzt, veröffentlichte 2016 im «Corriere del Ticino» einen vernichtenden Brief. «Diejenigen, die [Hadziev] für wenig Geld angeheuert haben, ohne es gesetzlich zu regeln, haben sein Verschwinden verbucht, als wäre er eine Ziege, die abends nicht in den Stall zurückkehrt», hiess es dort.

... oder das schlafende Gewissen eines Kantons?

Wie Gugolz erklärt, ist der Vorfall unter anderem die tragische Folge des ungeregelten Tagesablaufs auf der Alp: «Das Chaos, das Fabiano umgibt, ist Alltag. Nie läuft etwas nach Plan. Und als Hadziev weg war, dachte er einfach, er sei gegangen. Unter diesen Umständen ist es schwer, Verantwortung zu übernehmen. Es war ja kein festes Arbeitsverhältnis.» Und das ist im Tessin nicht ungewöhnlich. «Aber niemand redet darüber.»

So richtete sich die Kritik im Brief zu Recht auch an den Kanton Tessin: «Das zufällige Auffinden eines Beins mobilisiert die Behörden, weckt aber nicht das Gewissen.» Zwar wurde nach dem verschwundenen Arbeiter gesucht, aber die Rolle, welche seine Stellung als Schwarzarbeiter in dieser Tragödie spielte, wurde nicht diskutiert. Und auch die Verbindung zu Tobias K. blieb unklar: «Ich glaube, die Tessiner hatten den Fall abgeschlossen und wollten das nicht alles noch einmal aufrollen», meint Gugolz.

«Das sind nicht einfach Hippies, die nichts zustande bringen»

Im Film wird deutlich, dass auch die Bevölkerung des Tals Rauber sein Versäumnis übel nahm. Viele der üblichen Abnehmer seines Ziegenkäses kauften zeitweise nicht mehr bei ihm. Das hängt auch mit Raubers Familiengeschichte zusammen. Schon seine Eltern führten einen unkonventionellen Lebensstil. «Viele Leute im Tal sind gegen die Familie», weiss Gugolz. «Hippies fallen auf, und wenn dann etwas passiert, giesst das noch Öl ins Feuer.»

Genau darum geht es in Gugolz' Dokumentarfilm: um die gesellschaftlich und finanziell fragile Lage einer Familie, die auf einer Alp Ziegenkäse herstellt. Und darum, diese Familie auch mal von einer anderen Seite zu sehen. «Ich will allen, die in meinen Filmen vorkommen, die Chance geben, sich so zu zeigen, wie sie sind. Man soll sehen: Das sind nicht einfach irgendwelche Hippies, die nichts zustande bringen. Sie arbeiten hart, obwohl die Umstände schwierig sind.» «Kühe auf dem Dach» ist also in erster Linie ein anthropologisches Porträt. Und nur in zweiter Linie ein Krimi.

«Kühe auf dem Dach», der am diesjährigen Filmfestival in Nyon Premiere feierte, läuft ab dem 25. November in den Deutschschweizer Kinos.

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