Waris Dirie über das Musical «Wüstenblume»
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Ihre Geschichte auf der Bühne:Waris Dirie über das Musical «Wüstenblume»

Aktivistin und Model Waris Dirie
«Die Leute kriegen nicht genug von meinem Leben»

Nomadenkind, Verstümmelungsopfer, Model und UN-Sonderbotschafterin. Heute ist Waris Dirie (55) vor allem die Frau, die für den Kampf gegen die grausame Praxis der weiblichen Genitalbeschneidung steht. Ihre Geschichte kommt nun in St. Gallen als Musical auf die Bühne.
Publiziert: 12.02.2020 um 19:33 Uhr
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Aktualisiert: 05.03.2021 um 14:23 Uhr
Interview: Alexandra Fitz

Eine halbe Stunde noch, Waris Dirie sei in der Maske. Sie sei eben keine Einfache, heisst es. Man liest es auch in Artikeln über sie. Gestern war sie an einem Gesundheitskongress in St. Gallen, um über ihr Lebensthema zu sprechen, den Kampf gegen weibliche Genitalverstümmelung. Heute schaut sie bei den Proben des Musicals «Wüstenblume» zu, das am 22. Februar vom Theater St.Gallen uraufgeführt wird. Dirie tritt ins Foyer des Theaters und begrüsst zuerst die beiden Musical-Darstellerinnen, die ihre Geschichte auf die Bühne bringen. Sie trägt einen dunkelblauen Hosenanzug, ein buntes Tuch im Haar und rote Sneakers. Ihr Manager hat ihre High Heels in einem Plastiksack in der Hand. Fürs Fotoshooting wechselt sie die Schuhe. Dirie ist Profi vor der Kamera, mit 18 wurde sie entdeckt, lief für Chanel und war auf dem Cover der «Vogue». Dann setzt sie sich zu den beiden Darstellerinnen. Eine möchte wissen, wie gross sie ist. «1,75, aber jetzt bin ich wohl eher 1,73. Man schrumpft ja im Alter», sagt Dirie. Es spiele für sie heutzutage keine Rolle mehr. Sie habe früher immer gelogen. «Wie gross sind Sie? Welche Grösse haben Sie?» Jeden Tag habe sie etwas anderes angegeben. Alle lachen. «Girls let’s be serious. Let’s get this done. I am cold.» Mädchen, nehmen wir das ernst, bringen wir es hinter uns, mir ist kalt.

Frau Dirie, warum ein Musical?
Waris Dirie:
Ich möchte, dass Sie geduldig sind mit mir. Ich bin nicht gut bei konkreten Antworten. Warum ein Musical? Warum nicht?

War es Ihre Idee?
Nein. Eines Tages fragte man mich. Ich dachte: Oh nein, die Leute haben genug von meiner Geschichte. Ich habe ja selber genug davon. Alle sprechen ständig über dasselbe. Verstehen Sie?

Waris Dirie (55) ist wohl die bekannteste Kämpferin gegen die weibliche Genitalverstümmelung.
Foto: JESSICA KELLER
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Trotzdem haben Sie dem Musical zugestimmt.
Ja, weil es Frauen und Mädchen Mut macht. Und weil es die Ungleichheit zwischen Mann und Frau auf der Welt thematisiert, vor allem jene in Afrika. «Wüstenblume» soll die Zuschauer nicht nur unterhalten, sondern auch eine Botschaft vermitteln. Weibliche Genitalverstümmelung wird seit über tausend Jahren praktiziert.

Wie fühlt es sich an, Ihre persönliche Geschichte auf der Bühne zu sehen?
Die Leute kriegen einfach nicht genug von meinem Leben. Aber ich habe auch viel erlebt, musste viel durchmachen. Ich bin nicht die Einzige, es sind Millionen Frauen, die das durchmachen mussten. Das Buch, der Film, alles dient dem Ziel, weibliche Genitalverstümmelung auszurotten.

Vor fast 25 Jahren begannen Sie, gegen weibliche Genitalverstümmelung zu kämpfen. Wie fingen Sie an?
Ich musste alles selber herausfinden. Weshalb machen sie es? Was haben sie für Gründe? Diese Folter kommt überall da vor, wo Frauen keine Rechte, keine Entscheidungsfreiheit haben. Meine erste Erkenntnis war: Das ist ein Verbrechen. Und niemand tut etwas. Ich ertrage diesen Scheiss einfach nicht mehr.

Dirie dreht sich weg. Atmet tief. Sie flucht immer wieder. «Fuck!», sagt sie. Dirie wirkt mal begeisternd, mal irritierend. Sie schweift oft ab, driftet ins Ungefähre. Gleichzeitig spürt man ihre Energie und ihre Wut auf die Ungerechtigkeit, die Millionen von Frauen oder genauer gesagt Kindern widerfährt.

Haben Sie mit Ihrer Stiftung eigentlich etwas erreicht?
Der Anteil der Beschnittenen ging in einigen betroffenen Regionen von 80 auf 8 Prozent zurück. Ich würde sagen, das ist ein grosser Erfolg. Am ersten Tag, an dem ich den Kampf gegen Genitalbeschneidung aufnahm, habe ich mir selber versprochen: Ich werde die Beschneidung von Mädchen auf dieser Welt stoppen. Ich komme diesem Ziel näher.

Vor wenigen Wochen haben Sie in Sierra Leone Schulen eröffnet. Warum gerade da und nicht in Ihrer Heimat Somalia?
Sierra Leone hat eine der höchsten Raten. Bis zu 90 Prozent der weiblichen Bevölkerung sind von dem grausamen Ritual betroffen. Dasselbe in Somalia (siehe Kasten). Aus politischen Gründen konnte ich bisher keine Schule in Somalia bauen. Aber ich werde einen Weg finden, das ist meine nächste Mission. Ich will auch, dass Jungs besser ausgebildet sind, denn die Männer sind der Grund für diesen Mist.

Sie sagen, dass Beschneidung nur existiert, weil Männer und Frauen immer noch nicht gleichgestellt sind. Männer übten damit Kontrolle über Frauen aus. Es gehe um Macht und Unterdrückung. Die Genitalverstümmelung habe keinen medizinischen Nutzen. Das einzige Motiv sei, Frauen und deren Sexualität den Männern zu unterwerfen.
Ich bin vielen begegnet, die sagten, es sei unsere Religion. Es sei unsere Tradition. Hört doch auf! Es ist ein Verbrechen!

Sie sagen, durch Immigration sei Verstümmelung auch in Europa ein immer grösseres Thema. Was können wir hier tun, um das zu stoppen?
Die Kinder müssen kontrolliert werden. Man weiss nie, was in den Familien vor sich geht. Es gibt eine Welt zu Hause und eine draussen. Jemand muss für das Wohl der Kinder einstehen. Die Fürsorge, der Kinderschutz. Jedes Verbrechen gegen Kinder sollte sofort gestoppt werden. Was schadet es, die Kinder zu untersuchen? Während wir überlegen, ob das rechtens ist, wird vielleicht bereits das nächste Mädchen beschnitten. Wir müssen endlich Verantwortung übernehmen – Politiker, Lehrer, Eltern. Nicht nur beim Thema Beschneidung, auch im Umgang mit unserer Natur.

Sie sind wütend.
Die Welt blutet, die Umwelt stirbt. Wir müssen die Welt retten. Niemand wird die Welt retten ausser wir Frauen. Wir haben keine andere Chance. Wir machen diesen Job besser. Wir kriegen Dinge geregelt, wir sind zuverlässig. Doch wir werden immer noch behandelt wie Dreck.

Waris Dirie bittet nun energisch darum, dass «ihre Girls» etwas gefragt werden.

Wie ist es, die schicksalhafte Lebensgeschichte einer so starken und berühmten Frau zu spielen, die noch lebt und sogar zu den Proben kommt?
Naomi Simmonds (spielt Dirie als Kind): Als ich von dem Musical hörte, tat ich alles, um dabei zu sein. Das Thema ist so wichtig, das Musical hat eine Message. Die meisten sagen, bei Musicals gehe es stets um «Happy Life», aber hier zeigt man, was wirklich los ist auf der Welt. Ich bin nicht Waris, aber ich gebe mein Bestes, diese Rolle zu spielen.

«Sie ist unglaublich toll», sagt Dirie und legt ihren Arm um Simmonds.

Kerry Jean (spielt Dirie als erwachsene Frau, sie richtet ihre Antwort direkt an Dirie): Dein Leben, die Dinge, die du durchgemacht hast, und wie du überlebt hast, sind eine Herausforderung, weil ich dafür selbst zu den dunkelsten Momenten in mir drin vorstosse. Solche Gefühle kann man nicht einfach so vortäuschen, nicht in diesem Musical.

Am Ende des Treffens sagt Dirie: «Bitte bring eine positive Botschaft rüber. Wir Frauen müssen das schaffen. Wir Frauen retten die Welt!» Sie muss jetzt zum Flughafen, zurück in ihre Heimat Danzig. Warum eigentlich Polen? «Na ja», sagt ihr Manager aus Wien, «Waris mochte es da, und wir fanden eine schöne Villa am Meer.» Davor hätte sie ja in Wien gelebt. Aber jetzt übersiedle sie bald nach Berlin. Und dann sagt der Mann mit den High Heels im Plastiksack: «Sie ist eben eine Nomadin.»

Die Menschenrechtsaktivistin

Waris Dirie wird 1965 in der somalischen Wüste geboren. Mit fünf Jahren erleidet sie das grausame Ritual der Genitalverstümmelung. Mit 13 soll sie zwangsverheiratet werden. Dirie flieht und wird Dienstmädchen bei ihrem Onkel in London. Mit 18 wird sie als Model entdeckt. 1997 macht sie ihre Geschichte öffentlich. Sie wird UN-Sonderbotschafterin gegen weibliche Genitalverstümmelung und setzt sich seither für unterdrückte Frauen in Afrika ein. Ihre Biografie «Wüstenblume» verkauft sich über 12 Millionen Mal. Das Buch wird verfilmt. Nun folgt das Musical. Dirie hat zwei eigene Söhne und zwei von ihrer Schwester aus Somalia adoptiert. Sie lebt in Danzig (Polen) und zieht bald nach Berlin.

Waris Dirie wird 1965 in der somalischen Wüste geboren. Mit fünf Jahren erleidet sie das grausame Ritual der Genitalverstümmelung. Mit 13 soll sie zwangsverheiratet werden. Dirie flieht und wird Dienstmädchen bei ihrem Onkel in London. Mit 18 wird sie als Model entdeckt. 1997 macht sie ihre Geschichte öffentlich. Sie wird UN-Sonderbotschafterin gegen weibliche Genitalverstümmelung und setzt sich seither für unterdrückte Frauen in Afrika ein. Ihre Biografie «Wüstenblume» verkauft sich über 12 Millionen Mal. Das Buch wird verfilmt. Nun folgt das Musical. Dirie hat zwei eigene Söhne und zwei von ihrer Schwester aus Somalia adoptiert. Sie lebt in Danzig (Polen) und zieht bald nach Berlin.

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Weibliche Genitalverstümmelung

Weibliche Genitalverstümmelung (engl. female genital mutilation, kurz FGM) bezeichnet die teilweise oder vollständige Entfernung beziehungsweise Beschädigung der äusseren weiblichen Geschlechtsorgane. Dadurch soll die sexuelle Lust der Frau verhindert werden. Der Eingriff wird mit Tradition begründet. Die Verstümmelung findet meist vor der Pubertät statt, inzwischen auch vermehrt bei Babys. Weltweit sind 200 Millionen Frauen betroffen. Verbreitet ist das Ritual vor allem in Afrika, besonders in Nordost-, Ost- und Westafrika. Aber auch im Nahen Osten, in Südostasien – und unter Migrantinnen in Europa. In der Schweiz leben gemäss Schätzungen 15'000 Frauen und Mädchen, die von FGM betroffen oder gefährdet sind. Organisationen wie Unicef, WHO, Terre des Femmes oder die Desert Flower Foundation von Waris Dirie kämpfen seit Jahren gegen die Verstümmelungspraxis.

Barcroft Media via Getty Images

Weibliche Genitalverstümmelung (engl. female genital mutilation, kurz FGM) bezeichnet die teilweise oder vollständige Entfernung beziehungsweise Beschädigung der äusseren weiblichen Geschlechtsorgane. Dadurch soll die sexuelle Lust der Frau verhindert werden. Der Eingriff wird mit Tradition begründet. Die Verstümmelung findet meist vor der Pubertät statt, inzwischen auch vermehrt bei Babys. Weltweit sind 200 Millionen Frauen betroffen. Verbreitet ist das Ritual vor allem in Afrika, besonders in Nordost-, Ost- und Westafrika. Aber auch im Nahen Osten, in Südostasien – und unter Migrantinnen in Europa. In der Schweiz leben gemäss Schätzungen 15'000 Frauen und Mädchen, die von FGM betroffen oder gefährdet sind. Organisationen wie Unicef, WHO, Terre des Femmes oder die Desert Flower Foundation von Waris Dirie kämpfen seit Jahren gegen die Verstümmelungspraxis.

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Wüstenblume – das Musical

Das Musical «Wüstenblume» soll nicht nur unterhalten, sondern auch eine Botschaft vermitteln. «Ich will mit dem Musical Frauen und Mädchen Mut machen. Du kannst im Leben alles schaffen – auch als Frau! Egal, woher du kommst und welche Hautfarbe du hast,» sagt Waris Dirie. Das Einmalige sei, so die Macher, dass es ein Musical mit politischem Anspruch ist, das fände sich auf dem europäischen Markt fast nie. Für die Musik zeichnet Uwe Fahrenkrog-Petersen verantwortlich, der Welthits wie «99 Luftballons» für Nena komponierte. Das Buch schrieb Regisseur Gil Mehmert, von dem das Erfolgsmusical «Das Wunder von Bern» stammt. Am 22. Februar findet die Uraufführung im Theater St. Gallen statt.

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