Türkei bewegt Truppen an Grenze
Erdogan droht mit Offensive in Nordsyrien

Nach der Ankündigung einer baldigen militärischen Offensive gegen kurdische Milizen in Nordsyrien hat die Türkei an der Grenze zum Nachbarland Waffen und Truppen bewegt.
Publiziert: 06.10.2019 um 17:48 Uhr
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Aktualisiert: 07.10.2019 um 10:30 Uhr

Die Nachrichtenagentur DHA berichte am Sonntag, dass Soldaten im südosttürkischen Grenzort Akcakale Panzer und Artilleriegeschütze aufstellten. Die Waffen seien auf den gegenüberliegenden syrischen Ort Tel Abyad gerichtet worden.

Erdogan kündigt Offensive an

Die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu berichtete in der Nacht auf Sonntag von neun Transportern mit Militärfahrzeugen sowie einem Bus mit Soldaten, die Akcakale erreicht hätten. Sie seien aus der Provinzhauptstadt Sanliurfa gekommen. Dort hatte die Türkei im März ein Kommandozentrum für die lang geplante Offensive eingeweiht.

Präsident Recep Tayyip Erdogan hatte am Samstag vor Parteimitgliedern in Ankara gesagt, die Türkei stehe kurz vor einem Militäreinsatz in Syrien, der «sowohl aus der Luft als auch mit Bodentruppen» ausgefochten werde. Der Einsatz könne «heute oder morgen» beginnen. Bis zum Sonntagnachmittag blieb es allerdings ruhig.

Türkische und amerikanische Soldaten führten am Freitag im syrischen Grenzort Tel Abyad gemeinsam Patrouillen durch. (Bild vom 4. Oktober)
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Was ist das Ziel des Angriffs?

Ziel einer Offensive wären die kurdischen YPG-Milizen östlich des Flusses Euphrat, die an der türkisch-syrischen Grenze Gebiete kontrollieren. Die Türkei betrachtet die YPG als Ableger der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK und damit als Terroristen. Die USA unterstützen sie dagegen mit Waffen und Spezialkräften im Kampf gegen Dschihadisten.

Mobilmachung auf allen Seiten

In den von Kurden dominierten Gebieten laufen nun nach Angaben von Beobachtern und Aktivisten die Vorbereitungen auf den möglichen Einmarsch. Unter anderem machten die von den Kurden dominierten Syrisch-Demokratischen Kräfte (SDF) östlich des Flusses Euphrat mobil, berichtete die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte am Sonntag. Aktivisten und Augenzeugen berichteten, dass Stellungen befestigt und Gräben ausgehoben würden.

Der Sprecher der SDF, Mustapha Bali, hatte am Samstag auf Twitter geschrieben, man werde «nicht zögern, jeden Angriff von türkischer Seite in einen umfassenden Krieg entlang der ganzen Grenze zu verwandeln, um uns und unser Volk zu verteidigen».

Nicht die erste Offensive

Die Türkei war schon zweimal auf syrisches Gebiet vorgerückt, 2016 und 2018, beide Male westlich des Flusses Euphrat. Erdogan hatte die Offensive östlich des Euphrat zum ersten Mal im Dezember 2018 angekündigt und die Drohung seitdem mehrfach wiederholt. Bis in den Sommer hinein gab es Berichte über Truppen- und Waffentransporte Richtung Grenze.

Türkei will Zone für Flüchtlinge

Die türkische Regierung fordert in Nordsyrien seit langem eine Zone unter ihrer alleinigen Kontrolle. Erdogan hat diese auch als Siedlungsgebiet für syrische Flüchtlinge aus der Türkei und Europa ins Spiel gebracht. In der Türkei kippt angesichts der schlechten Wirtschaft die Gastfreundschaft gegenüber den Millionen Flüchtlingen.

Bei einem Besuch des EU-Migrationskommissars Dimitris Avramopoulos und des deutschen Innenministers Horst Seehofer in Ankara am Donnerstag und Freitag hatte unter anderem Vizepräsident Fuat Oktay Unterstützung für den Aufbau der Zone gefordert, unter anderem für Unterkünfte und Spitäler.

Seehofer sagte nach seinem Gespräch mit Innenminister Süleyman Soylu am Donnerstag zu deutschen Journalisten: «Ich habe deutlich gesagt, dass es ja viele Regierungen gibt, unsere eingeschlossen, die da ihre Probleme haben.»

Türkei nutzt Offensive als internationale Drohung

Die Eskalation der Drohung, in Nordsyrien einzumarschieren, dürfte den Forderungen der Türkei immerhin Nachdruck verleihen. Ähnliches hatten bereits zuvor Früchte getragen. Nachdem Erdogan Ende Juli und Anfang August ebenfalls mehrfach mit der baldigen Offensive gedroht hatte, sagten die USA zu, bei der Einrichtung der «Sicherheitszone» zu helfen - auch, um den Angriff auf die YPG zu verhindern. Die ist ein wichtiger Verbündeter der USA im Kampf gegen die Terrormiliz IS.

Wie soll die türkische Zone aussehen?

Einzelheiten zur Form oder Kontrolle des Gebiets blieben aber zunächst karg und widersprüchlich. Türkischen Vorstellungen nach soll es rund 30 Kilometer tief sein und sich ab dem Euphrat gen Osten die gesamte türkisch-syrische Grenze entlangziehen.

Kurdischen Angaben zufolge sah die Einigung den Rückzug von Milizen aus einem 5 bis 14 Kilometer tiefen Gebiet vor. «Man habe sich an die Absprachen (zum Sicherheitsmechanismus) gehalten», hiess es von kurdischer Seite am Samstag. Eine von Erdogan gesetzte Frist für die Fertigstellung der Zone verstrich zu dessen Unmut Ende September.

Beziehungen zur USA stehen auf dem Spiel

Die Türkei würde mit einer Offensive viel riskieren - unter anderem eine Verschlechterung der sowieso schon gespannten Beziehungen mit den USA, die in Nordsyrien weiter Truppen haben. Im Januar hatte US-Präsident Trump der Türkei sogar mit wirtschaftlicher Zerstörung gedroht, sollte sie die YPG angreifen. Später entschärfte er das.

Die USA sorgen sich unter anderem darum, dass die YPG wegen Gefechte mit türkischen Truppen ihre Anti-Terror-Aufgaben vernachlässigen müssten, beispielsweise die Sicherung von inhaftierten IS-Kämpfern

(SDA)

Krieg in Syrien: Wer kämpft gegen wen?

Seit 2011 tobt der Krieg in Syrien. Zeitweise sah es so aus, als verliere Präsident Baschar al-Assad seine Macht. Mittlerweile aber konnten Regierungsgruppen grosse Gebiete des Landes wieder einnehmen. Ein Überblick:

  • Syrische Regierung
    Assads Anhänger kontrollieren fast den gesamten westlichen Teil des Landes von Aleppo im Norden über das Zentrum um die Hauptstadt Damaskus bis zur Stadt Daraa im Süden, wo der Aufstand im Frühjahr 2011 begonnen hatte. Regierungstreue Kräfte beherrschen damit den grössten Teil der noch verbliebenen Einwohner und die wichtigsten Städte. Allerdings ist die Armee dabei auf Hilfe angewiesen.
    Das sind einerseits lokale Milizen, die oft von Kriegsherren kommandiert werden. Dazu zählen aber auch ausländische schiitische Milizen, die vom Iran unterstützt werden, wie die Hisbollah aus dem Libanon. Russlands Armee unterstützt die Regierung mit Luftangriffen.

  • Die Rebellen
    Eine ihrer letzten verbliebenen Hochburgen ist die Region um die Stadt Idlib im Nordwesten Syriens. Eine der stärksten bewaffneten Gruppen dort ist die Organisation Tahrir al-Scham (HTS), die früher zum Terrornetzwerk Al-Kaida gehörte. In dem Gebiet leben auch mehr als eine Millionen Menschen, die aus anderen Regionen vor den Assad-Truppen geflohen sind. Die humanitäre Lage ist schwierig.

  • Die Türkei
    Gemeinsam mit syrischen Rebellen beherrschen Ankaras Truppen ein Gebiet nördlich von Idlib rund um die Stadt Afrin. Die türkische Armee war hier im Frühjahr einmarschiert und hatte die Kurdenmiliz YPG vertrieben. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan droht nun mit einer neuen Offensive gegen die Kurden.

  • Die Kurden
    Sie beherrschen grosse Gebiete im Norden und Osten Syriens und haben eine Selbstverwaltung errichtet. Die Kurdenmiliz YPG führt eine Koalition an, zu der auch lokale arabische Gruppen gehören. Die so genannten Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) bekämpfen nahe der Grenze zum Irak einer der letzten Bastionen des IS. Die Kurden kontrollieren auch die wichtigsten Ölvorräte des Bürgerkriegslandes.

  • Die USA
    Washington hat etwa 2000 Mann im Land, die die YPG und SDF unterstützen, unter anderem mit Ausbildung. Als Hauptziel nennen sie die Zerschlagung des IS. Die USA führen auch eine internationale Koalition an, die Luftangriffe auf die Extremisten fliegt. Trump liess die US-Truppen im Oktober 2019 abziehen und brach die Unterstützung der kurdischen Kämpfer ab.

  • Der IS
    Die Terrormiliz Islamischer Staat hat ihr früheres Herrschaftsgebiets fast vollständig verloren. Im Osten kontrolliert sie noch ein kleines Gebiet. In den Wüstenregionen Syriens und auch des Iraks sind aber noch Zellen aktiv, die Terroranschläge verüben.

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    Das sind einerseits lokale Milizen, die oft von Kriegsherren kommandiert werden. Dazu zählen aber auch ausländische schiitische Milizen, die vom Iran unterstützt werden, wie die Hisbollah aus dem Libanon. Russlands Armee unterstützt die Regierung mit Luftangriffen.

  • Die Rebellen
    Eine ihrer letzten verbliebenen Hochburgen ist die Region um die Stadt Idlib im Nordwesten Syriens. Eine der stärksten bewaffneten Gruppen dort ist die Organisation Tahrir al-Scham (HTS), die früher zum Terrornetzwerk Al-Kaida gehörte. In dem Gebiet leben auch mehr als eine Millionen Menschen, die aus anderen Regionen vor den Assad-Truppen geflohen sind. Die humanitäre Lage ist schwierig.

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  • Die Kurden
    Sie beherrschen grosse Gebiete im Norden und Osten Syriens und haben eine Selbstverwaltung errichtet. Die Kurdenmiliz YPG führt eine Koalition an, zu der auch lokale arabische Gruppen gehören. Die so genannten Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) bekämpfen nahe der Grenze zum Irak einer der letzten Bastionen des IS. Die Kurden kontrollieren auch die wichtigsten Ölvorräte des Bürgerkriegslandes.

  • Die USA
    Washington hat etwa 2000 Mann im Land, die die YPG und SDF unterstützen, unter anderem mit Ausbildung. Als Hauptziel nennen sie die Zerschlagung des IS. Die USA führen auch eine internationale Koalition an, die Luftangriffe auf die Extremisten fliegt. Trump liess die US-Truppen im Oktober 2019 abziehen und brach die Unterstützung der kurdischen Kämpfer ab.

  • Der IS
    Die Terrormiliz Islamischer Staat hat ihr früheres Herrschaftsgebiets fast vollständig verloren. Im Osten kontrolliert sie noch ein kleines Gebiet. In den Wüstenregionen Syriens und auch des Iraks sind aber noch Zellen aktiv, die Terroranschläge verüben.
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