FDP-Magistrat Ignazio Cassis zur Neubesetzung des Bundesrates
«Am besten wären zwei Frauen»

Seit einem Jahr ist Ignazio Cassis im Bundesrat. Ginge es nach ihm, würde die Bundesversammlung bald zwei neue Kolleginnen wählen.
Publiziert: 30.09.2018 um 11:28 Uhr
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Aktualisiert: 09.10.2018 um 11:08 Uhr
Interview: Christian Dorer und Simon Marti; Fotos: Karl-Heinz Hug

Am späten Freitagnachmittag trifft SonntagsBlick FDP-Bundesrat Ignazio Cassis in seinem Büro im Bundeshaus West. An der Wand hängt eine Weltkarte mit 170 Stecknabeln: Jede steht für eine Schweizer Vertretung. Der Aussenminister kommt gerade von der UNO-Generalversammlung in New York.

Herr Bundesrat, vor einem Jahr wurden Sie in die Regierung gewählt. Wie hat sich Ihr Leben verändert?
Ignazio Cassis:
Es hat sich komplett verändert! Meine Tage sind zwar gleich lang, aber die Arbeit ist viel konzentrierter, mit völlig neuen Themen. Ich war 25 Jahre in der Gesundheitspolitik engagiert, nun bin ich Vorsteher des EDA. Eine Welt, die ich entdecken muss. Ich bin kein Diplomat.

Haben Sie noch ein Privatleben?
Nein. Man verschreibt sich diesem Amt vollständig. Am Wochenende fahre ich ins Tessin und ich verbringe mindestens 24 Stunden mit meiner Frau. Aber selbst da lesen wir beide oft Akten. Denn auch sie steckt voll in ihrem Beruf.

Am 20. September 2017 wählt die Vereinigte Bundesversammlung Ignazio Cassis zum Bundesrat.
Foto: Keystone
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Wie lernt man Bundesrat?
Durch Freude, Neugier, Leidenschaft. Ich habe genügend Selbstvertrauen, um mich auch in neuen Situationen orientieren zu können. Natürlich mache ich Fehler. Daraus lerne ich.

Welche Fehler?
Protokollarische zum Beispiel. Manchmal sitze ich bei Treffen am falschen Platz. Oder ich realisiere, dass ich einen falschen Entscheid gefällt habe. Zum Beispiel in Personalfragen oder bei finanziellen Prioritäten. Man ist immer unter Druck, Entscheide zu treffen, ohne alle Informationen zu kennen. Manchmal liegen sie nicht ausreichend vor, manchmal fehlt schlicht die Zeit, alles auszuwerten. Darum sind die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter eines Bundesrates so entscheidend.

Seit Ihrer Wahl drücken FDP und SVP ihre Linie im Bundesrat meistens durch. Stehen Sie weiter rechts als gedacht?
Nein. Man wusste, wer ich bin. Darum hat die Linke mich nicht gewählt.

Doris Leuthard mahnt in Ihrer Rücktrittserklärung, Bundesräte sollen eigenständig sein und keine Parteisoldaten.
Die Zauberformel ist nicht zum Spass da. Die verschiedenen Weltanschauungen sollen in den Bundesrat gelangen. Das Kräfteverhältnis neigt mal nach links, mal nach rechts. Die Schweiz ist gut gefahren damit. Seit 170 Jahren haben wir eine »Vollkoalition». Wer zum Beispiel nach Deutschland blickt, mit den vielen Diskussionen in der «grossen Koalition», kann das kaum glauben.

Die Stimmung im Bundesrat war schon besser. Wenn publik wird, dass Johann Schneider-Ammann in den Sitzungen einnickt, so kann diese Information nur aus dem innersten Zirkel kommen.
Die Stimmung ist das eine, das Resultat das andere. Mit unseren Institutionen geht es der Bevölkerung gut. Das ist der Erfolg. Es ist ein wenig wie mit der Homöopathie: Deren Wirksamkeit ist wissenschaftlich nicht nachgewiesen. Aber wenn sie dem Patienten hilft, ist es egal, wenn wir nicht wissen warum.

Ihr Parteikollege Johann Schneider-Ammann tritt zurück. Wie haben Sie sich mit ihm verstanden?
Sehr gut. Er ist ein ruhiger, überlegter Berner, der unser Land liebt. Er hat sich wie ein Löwe für Sozialpartnerschaft, Jobs, Digitalisierung eingesetzt. Ich bin traurig, dass er geht. Und ich bin traurig, dass Frau Leuthard geht.

Was zeichnet Bundesrätin Leuthard aus?
Sie ist die Weise im Bundesrat. Durch Ihre Persönlichkeit ist sie ein moderierender Faktor im Gremium.

Ignazio Cassis

Ignazio Cassis kam 1961 in Sessa TI zur Welt. Der Mediziner gelangte 2007 in den Nationalrat und präsidierte ab 2015 die FDP-Bundeshausfraktion. Am 20. September 2017 wählte ihn die Vereinigte Bundesversammlung in den Bundesrat. Er steht dem Eidgenössischen Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) vor.

Ignazio Cassis kam 1961 in Sessa TI zur Welt. Der Mediziner gelangte 2007 in den Nationalrat und präsidierte ab 2015 die FDP-Bundeshausfraktion. Am 20. September 2017 wählte ihn die Vereinigte Bundesversammlung in den Bundesrat. Er steht dem Eidgenössischen Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) vor.

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Vor einem Jahr kämpfen Sie für einen Vertreter der italienischsprachigen Schweiz. Müssen nach dieser Logik jetzt nicht eine, besser zwei Frauen in den Bundesrat nachrücken?
Es ist gut, wenn Männer und Frauen ausgewogen im Bundesrat vertreten sind. Bei zwei Vakanzen sollte man jetzt dafür sorgen, dass dieses Verhältnis wieder gefunden wird.

Also zwei Frauen?
Am besten wären zwei Frauen. Für mich ist das aber kein Gesetz, sondern eine Präferenz. Die gilt es bestmöglich zu berücksichtigen.

Die FDP hat seit 29 Jahren keine Frau mehr im Bundesrat. Das geht doch nicht im Jahr 2018!
Der Druck für die FDP, eine Kandidatin zu nominieren, ist gross. Wir haben gute Frauen in unserer Partei. Aber Sie werden von mir jetzt keine Namen hören.

Schliessen Sie selber einen Departementswechsel aus?
Das entscheidet das Gremium. Ich werde jedoch den Wunsch äussern zu bleiben. Es wäre nicht effizient, wenn ich nach elf Monaten im EDA schon wieder «Tschüss» sagen würde.

Ihr wichtigstes Dossier ist Europa. Werden die Wechsel im Bundesrat diese Frage entkrampfen?
Kaum. Die Zusammensetzung wird sich ja nicht ändern. Und die Positionen der Parteien sind bekannt.

An Ihnen sieht man, dass ein neuer Bundesrat die Dynamik verändern kann.
Schon. Käme aber ein neuer Bundesrat aus der FDP-Fraktion, wäre keine nennenswerte Änderung beim Thema zu erwarten.

Haben Sie den berühmten Reset-Knopf im Europadossier inzwischen gedrückt?
Ja. Heute diskutiert das Land anders über Europa als noch vor einem Jahr. Es herrscht mehr Klarheit.

War es Kalkül, dass Sie im Juni die Acht-Tage-Regel hinterfragt haben, oder aus dem Bauch heraus?
Es war Ehrlichkeit. Ich habe zu erklären versucht, warum wir überhaupt über ein Rahmenabkommen sprechen. Der Hauptgrund war das Entsendegesetz und die Flankierenden Massnahmen. Im Juni war klar, dass die EU keine Ausnahmen für alle Flankierenden Massnahmen gewähren will. Also habe ich die Wahrheit gesagt. Nur wurde sie verschieden interpretiert. Den Lohnschutz habe ich zum Beispiel nie hinterfragt, lediglich die Massnahmen.

Es ist doch nur normal, dass die Gewerkschaften da voll dagegenhalten.
Sicher. Das politische Kalkül dahinter muss ich Ihnen nicht erklären. Aber man darf nicht immer politisch zu korrekt sein. Ich habe bloss versucht, die Dinge in einer blockierten Situation anders anzugehen.

Warum haben Sie diesen heiklen Punkt nicht vorgängig mit den Gewerkschaften besprochen, bevor Sie in die Medien gingen?
Ich ging nicht in die Medien, sondern habe am Rande einer Veranstaltung erwähnt, dass wir in diesem strittigen Punkt – der  Acht-Tage-Regel – kreativ sein müssen, sollte dies die letzte Hürde sein. Dass diese Worte dann instrumentalisiert werden, das ist Politik.

Also waren Sie zu wenig vorsichtig?
Ich denke heute, dass auch ein einziges kritisches Wort ein Potential zur Manipulation in sich trägt, das grösser ist, als ich im Sommer annahm.

Werden die Gewerkschaften an den Verhandlungstisch zurückkommen?
Ich hoffe es. Ich selber habe seit Ende Juni zwar keinen Kontakt mehr zu den Gewerkschaften. Aber der Bundesrat hat Signale, dass sie ihre Verantwortung wahrnehmen wollen.

Müssten jetzt nicht die beiden SP-Bundesräte dafür sorgen, dass der Dialog wieder in Gang kommt?
Der Gesamtbundesrat hat sich einstimmig entschieden, mit allen Sozialpartnern wieder an einen Tisch zu setzen. Alle zusammen. Wer genau was macht, bleibt vertraulich.

Der Bundesrat will weiter über ein Rahmenabkommen verhandeln. Aber braucht es dieses Abkommen wirklich? Was passiert, wenn es scheitert?
Unsicherheit wird Unternehmen davon abhalten, in der Schweiz zu investieren. Denn sie wollen einen garantierten Zugang zum europäischen Markt. Und diesen wird es nicht gratis geben. Das kann ich verstehen. Genau so entstand ja das Klischee der Rosinenpickerei: Die Schweiz wird wohl nicht den Föifer und das Weggli bekommen. Aber der Preis soll vernünftig sein und unsere Souveränität nicht gefährdet werden.

Ist ein Abschluss einfacher, so lange noch Jean-Claude Juncker die EU-Kommission präsidiert?
Juncker hat die Schweiz gern. Mit ihm und dem zuständigen Kommissar Johannes Hahn aus Österreich, der unser Land ebenfalls gut kennt, ist die Konstellation günstig. Nehmen wir an, dass wir nach den Wahlen 2019 mit einem Iren und einem Malteser über die Schweiz sprechen müssten. Hier müssten wir zuerst erklären, wie die Schweiz funktioniert!

Sie haben in New York den russischen Aussenminister Sergei Lawrow getroffen. Sie hätten mit ihm über Tätigkeiten russischer Spione Klartext gesprochen. Wie genau ist das abgelaufen?
Gespräche mit Ministern anderer Länder beginnen mit einer Einleitung, bei der beide Seiten die guten Beziehungen würdigen. Dann kommen die Probleme zur Sprache. Aussenminister Lawrow kam sofort zur Sache, nach dem Motto: Angriff ist die beste Verteidigung. Er meinte, die Schweiz hätte keine Beweise für ihre Vorwürfe.

Was passierte dann?
Ich habe ihm klargemacht, dass wir solche nachrichtendienstlichen Tätigkeiten von keinem Land dulden. Ich habe ihm die Fakten genannt. Es war eine harte Diskussion. Lawrow ist ein alter Fuchs.

Wenn jeder vierte russische Diplomat ein Spion ist: Muss man diese Leute nicht ausweisen?
Diese Zahl kursiert in den Medien. Beweise haben wir nicht. Wir wissen aber, dass Russland, und nicht nur Russland, nachrichtendienstliche Tätigkeiten betreibt, die unsere Gesetze verletzen. Das dulden wir nicht.

Was kann die Schweiz dagegen tun?
Wir haben den Botschafter einbestellt, dann trifft man sich mit Ministern. Jetzt müssen wir abwarten, wie Moskau reagiert. Die weiteren Schritte könnten bis zur Ausweisung der Diplomaten reichen. So weit wollen wir nicht gehen.

Der Bundesrat wollte die Kriegsmaterialexporte lockern. Das betrifft auch Ihr Departement: Widerspricht dieser Schritt nicht der Friedensförderung?
Das Thema wird sich erübrigen, es ist nun am Parlament zu entscheiden. Wir haben einen Zielkonflikt: Auf der einen Seite die humanitäre Tradition der Schweiz, die mir sehr wichtig ist. Auf der anderen die Bundesverfassung, welche die Sicherheit als Grundpfeiler unseres Landes festschreibt. Dazu haben wir eine Armee. Die braucht Waffen, und dabei dürfen wir nicht ausschliesslich von Importen aus dem Ausland abhängig sein. Der Bundesrat tat also etwas, damit unsere Rüstungsindustrie weiterbestehen kann.

Nach Ihrer Logik müsste die Schweiz Kampfjets bauen.
Es geht nicht um das gesamte Material der Armee, sondern um  den Grundbedarf an Ausrüstung, der in der Schweiz hergestellt werden sollte.

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