Pädagogen schlagen Alarm wegen unbeweglichen Kindern
Sie können nicht mal einen Purzelbaum

Immer mehr Kinder leiden unter grossen Bewegungsdefiziten. Sie können kaum mehr Treppen steigen, keine Purzelbäume schlagen und keinen Hampelmann machen.
Publiziert: 05.11.2016 um 00:15 Uhr
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Aktualisiert: 12.10.2018 um 16:15 Uhr
Romina Lenzlinger und Beat Michel

Kinderturnen in Dietikon ZH. Weil die Halle im oberen Stock des Gebäudes liegt, müssen die Kindergärtler fünf Stufen hochsteigen. Alle rennen hinauf. Nur Martin* (5) kommt kaum mit. «Er läuft wie ein Zweijähriger und zieht bei jeder Stufe ein Bein nach», sagt Kindergärtnerin Céline Lamm (29).

Der Bub ist kein Einzelfall. Immer mehr Kinder leiden unter grossen Bewegungsdefiziten. Sie können kaum mehr Treppen steigen, keinen Hampelmann machen – und nicht mal einen Purzelbaum schlagen. Auch Velofahren, auf einer Mauer balancieren oder einen Ball fangen ist für die Kleinsten eine grosse Herausforderung.

Die Eltern haben zu viel Angst

Schuld ist die Angst der Eltern. Sie schränken die Bewegungsfreiheit ihrer Kinder zunehmend ein. «Sie glauben, dass sie ihren Nachwuchs pausenlos beschützen müssen. Dadurch lassen sie die Kinder kaum mehr selbständig spielen und ihre Erfahrungen machen», sagt Lamm.

Kinder in der Turnstunde.
Foto: PATRICK B. KRAEMER
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Ein Beispiel sei der Spielplatz. «Weil viele Eltern Risiko und Gefahr nicht mehr auseinanderhalten können, bekommen sie schon Angst, wenn ihr Spross alleine auf der Schaukel sitzt.» BLICK hat bei Eltern nachgefragt – und erstaunlich selbstkritische Antworten bekommen. 

Ruth Fritschi, die oberste Kindergärtnerin vom Dachverband Lehrerinnen und Lehrer Schweiz, appelliert an die Erziehungsberechtigten: «Die Eltern sollen wieder mutiger werden und ihren Kindern Gelegenheit geben, sich selber herauszufordern. Mit einer übergrossen Angst behindern sie die Entwicklung ihrer Sprösslinge.»

Kinder sollen sich vermehrt wieder frei bewegen dürfen

Auch Dominique Högger, Dozent an der Pädagogischen Hochschule Nordwestschweiz, ist besorgt: «Wenn den Kindern die Basiskompetenzen fehlen, hat dies ernsthafte Konsequenzen.» Neben der fehlenden Motorik haben Kinder oft auch Probleme mit dem räumlichen Sehen.

«Kinder müssen das Sehen aus dem Augenwinkel oder auch die Einschätzung von Distanzen und Geschwindigkeiten erst erlernen. Das ist im Strassenverkehr von grosser Bedeutung.» Solche Fähigkeiten erlangt das Kind am besten, wenn es sich frei bewegen und spielen kann.

Sitzt es vorwiegend vor dem Fernseher, wird sein Auge aber nur einseitig geschult. Ein weiterer Punkt ist die Auge-Hand-Koordination, welche Kinder etwa durch das Spielen mit Bauklötzli erlernen. Auch hier beobachten die Lehrer teils grosse Defizite. «Kinder, die in ihrem Spiel wenig Gelegenheit haben, das Zusammenspiel von Auge und Hand zu üben, haben später in der Schule oft Mühe mit dem Schreiben», sagt Högger.

*Name geändert

Ralph Engelmann (30), Schauspieler, mit Tochter Ilvi (2): «Ich gehe mit Ilvi am liebsten auf grosse Wiesen. Da ist viel Platz und sie kann rennen, ohne dass ich Angst haben muss. Auf Spielplätzen bin ich vorsichtiger. Ich sichere ab, wenn zum Beispiel die Treppe der Rutsche kein Geländer hat. Es ist mir wichtig, dass sie jeden Tag an die frische Luft kann.»

Anna Clement (40), Sozialpädagogin, Zürich, mit Meret (7 Monate) und Raul (2).

Anna Clement (40), Sozialpädagogin, Zürich, mit Meret (7 Monate) und Raul (2): «Die Helikopter-Eltern sind ein grosses Thema. Ich versuche, für meine Kinder die richtige Mischung aus Machenlassen und Beschützen zu finden. Es ist ein tägliches Ausloten. Ich tendiere eher dazu, den Kids mehr Freiheiten zu lassen. Ich ernte dafür kritische Blicke der vorsichtigeren Eltern.»

Roni (49), Filmer aus Zürich, mit Oski (4), macht für Gesundheitsförderung Schweiz Filme zur Förderung der Bewegung bei Kindern: «Ich lasse meinen Sohn alles machen. Er soll klettern, rutschen, springen, soviel er sich zutraut. Wenn er fragt, zeige ich ihm vor, wie etwas funktioniert. Bis jetzt hatten wir auch noch keinen schlimmen Unfall. Mir fällt auf, dass Eltern heute die Kinder zu früh vor Gefahren warnen.»

Karin Kümin (37), Sportlehrerin, mit Partner Nils Fehr (44), Architekt, und den Kindern Lina (2) und Noah (9 Monate): «Wir gehen zwei Mal am Tag auf den Spielplatz. Ich begleite die Kinder an den Geräten, lasse aber auch viel zu. Bewegung ist sehr wichtig. Was sie jetzt an Erfahrungen verpassen, können sie später nicht mehr aufholen. Ich gebe zu: Der Mann ist risikobereiter als ich. Ich bemerke im Job, dass die motorischen Fähigkeiten der Schüler abnehmen. Ich muss die Ansprüche der Benotung immer wieder nach unten korrigieren.»

Julie Steiner (33), Bankangestellte aus Schwerzenbach ZH, mit Tochter Elisa (3): «Es ist schwer wegzuschauen, wenn mein Kind gefährliche Sachenmacht. Ich weiss, dass es dann eigentlich am meisten lernt. Wie hier: Ich lasse sie klettern, halte sie aber fest, damit sie nicht fallen kann. Dafür ist sie vier Tage im Hort und spielt mit grösseren Kindern. Da lernt sie viel.»

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