Neue Schweizer Bücher spielen auf fremdem Terrain
Neues aus Neuengland

Der Nordosten der Vereinigten Staaten bietet eine prächtige Kulisse für literarische Werke. Dieses Jahr spielen gleich mehrere Neuerscheinungen von Schweizer Schriftstellern in dieser Gegend. Weshalb kommt es gerade jetzt zu dieser Häufung?
Publiziert: 31.08.2019 um 15:00 Uhr
Neuengland im Nordosten der USA bietet eine prächtige Kulisse für Literatur – das haben 2019 mehrere Schweizer gemerkt.
Foto: Getty Images
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Daniel Arnet

Der grosse Bär blutet jetzt wieder: Im Indianerstamm der Irokesen erzählt man sich die Legende vom Grizzly, den Jäger im Spätsommer unermüdlich bis in den Himmel verfolgen, dort erschiessen, worauf sein Blut auf die Erde runtertropft und die Blätter der Ahornbäume rot färbt.

Indian Summer heisst in Neuengland, dem Nordost-Zipfel der USA, die Zeitspanne von September bis Oktober, in der die knallroten und goldgelben Laubwälder unter einem meist knutschblauen Himmel leuchten – ein buntes Farbenmeer, das Jahr für Jahr Tausende von Touristen anlockt.

Diese prächtige Kulisse fasziniert nicht bloss Ureinwohner und Urlauber, sondern auch Ur­heber literarischer Werke: Nathaniel Hawthorne (1804–1864, «The Scarlet Letter») und Henry David Thoreau (1817–1862, «The Maine Woods») schrieben aus und über die Gegend, John Irving (77, «Hotel New Hampshire») und Stephen King (71, «Salem’s Lot») tun es noch heute.

Neuengland-Romane haben Bestseller-Potenzial

Doch neuerdings sind auch Schweizer Schriftsteller von diesen Nordost-Bundesstaaten an­getan: Gleich drei helvetische Neuerscheinungen von 2019 handeln ennet des grossen Teichs in einem Dreieck von den Hamptons im Süden nach Nordosten auf Spruce Head Island in Maine und dann nordwestlich nach Johnson in den Green Mountains von Vermont.

Im Frühling erschien der Roman «Das Verschwinden der Stephanie Mailer» des Genfers Joël Dicker (34), im Sommer veröffentlichte der gebürtige Zürcher Hansjörg Schertenleib (61) seinen ersten Maine-Krimi «Die Hummerzange», und im Herbst folgt dann noch die Weihnachtsgeschichte «Marcia aus Vermont» des Wahl-Winterthurers Peter Stamm (56). Drei gegensätzliche Literaten, dieselbe nationale Herkunft; drei unterschiedliche Werke, dasselbe ausländische Handlungsgebiet.

Weshalb nun diese Häufung von neuen Schweizer Büchern, die die Nordost-Staaten thematisieren? Markt-Kalkül? Gewiss, mit einem solchen Setting kann man im deutschsprachigen Buchmarkt immer einen Bestseller landen. Das zeigt ein Blick auf die mass­gebende «Spiegel»-Bestsellerliste: Bereits mit seinem ersten Neuengland-Roman «Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert» erklomm Joël Dicker dort 2013 Platz 6. Der Roman, der im fiktiven Ort Aurora an der Atlantikküste New Hampshires spielt, wurde in über 40 Sprachen übersetzt und verkaufte sich mehr als drei Millionen Mal.

Ein wahrer Bestseller, der den Jungschriftsteller aus der Westschweiz schlagartig berühmt machte. So wie der Fall Harry Quebert das erfundene Kaff im Thriller: «Vor diesem Fall, der im Sommer 2008 ganz Amerika erregte, hatte noch nie jemand von Aurora gehört», schreibt Dicker. «Es ist ein Stück Amerika, dessen Bewohner ihre Haustüren nicht abschliessen, einer von diesen Orten, wie es sie nur in Neuengland gibt, und so beschaulich, dass man meint, hier könnte nichts ­Böses geschehen.»

Schertenleib lebt seit 2016 auf Spruce Head Island

Wie lernte Dicker dieses «Stück Amerika» kennen? «Als Kind verbrachte ich all meine Ferien in Maine in einem Sommerhaus von Verwandten», sagte er mir im ersten Interview zur Lancierung der deutschsprachigen Ausgabe von «Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert». «Das ist der ein­zige Ort ausserhalb von Genf, den ich sehr gut kenne.»

Dieses Jahr nun «Das Verschwinden der Stephanie Mailer», womit Dicker wiederum bis auf Platz 6 der «Spiegel»-Bestsellerliste kletterte. Wiederum spielt der Roman im Nordosten der USA, dieses Mal im fiktiven Ort Orphea in den Hamptons auf Long Island. Die Journalistin Stephanie Mailer konfrontiert einen Polizisten mit einem alten Mordfall und sagt, dass er sich damals geirrt habe. Später verschwindet sie in Orphea, worauf der Polizist dorthin fährt: «Im letzten Abschnitt führte der Weg durch prächtige Wälder und vorbei an mit Seerosen bedeckten Seen.»

Während Dicker für solche Beschreibungen seine Ferienerinnerungen in Maine bemüht, lebt sein Kollege Schertenleib seit 2016  zusammen mit seiner Frau jeweils ein halbes Jahr in diesem US-Staat, genauer auf der Insel Spruce Head, die durch eine Brücke mit dem Festland verbunden ist, ganz in der Nähe des grossen US-Autors Richard Ford (75, «Independence Day»). Zuvor pendelte Schertenleib 20 Jahre lang zwischen der Schweiz und Irland hin und her.

Stamm versetzte eine Story aus Japan nach Vermont

«Die Hummerzange» heisst sein erster «Maine-Krimi», den er im Mai veröffentlichte. Auch er geizt in seinen Beschreibungen nicht mit Lokalkolorit: «Der Wald auf beiden Seiten der schmalen Nebenstrasse bestand aus weit mehr Laubbäumen als der Wald auf Spruce Head Island, der sich zum grössten Teil aus Nadelhölzern ­zusammensetzte», schreibt Schertenleib. «Sonne streifte durch die Stämme, nahm selbst dem dichten Unterholz die Bedrohung.»

«Die Landschaft hier ist spektakulär, rau, unbarmherzig und gleichzeitig wunderschön, also höchst dramatisch», sagt Schertenleib. «Daher drängt sie sich als Handlungsbühne für Stoffe, die über die Scharniere Plot und Spannung funktionieren, geradezu auf.» «Die Hummerzange», worin einer auf dem Meer treibenden männlichen Leiche eine ebensolche ins Auge gerammt wurde, soll denn auch nur der Auftakt für eine Reihe weiterer «Maine-Krimis» sein. Man darf gespannt sein.

Schertenleib, der sich bisher mit Gedichtbänden, Bühnenwerken, Jugendbüchern wie «Schatten­paradies» (2001) und Romanen wie «Jawaka» (2015) einen ­Namen machte, zerrt nun an den Nerven der Leserschaft. Selber beeindruckt ist der Autor von den Thrillern des Iren John Connolly (51), der mittlerweile in Portland (Maine) lebt. Connollys Bücher spielen häufig dort. Leben und Schreiben sind auch für den Schweizer nahe beieinander: «Ich will einen Ort erfahren, über den ich schreibe», sagt Schertenleib. «Lebte ich immer noch in Irland, würde eine Krimireihe von mir selbstredend dort spielen.»

Erfahrung ist ebenso für Peter Stamm die Voraussetzung, um über etwas schreiben zu können. Seine kommende Weihnachts­geschichte «Marcia aus Vermont» basiert auf einer Anekdote, die ihm eine Freundin erzählte. Die Begebenheit trug sich allerdings in einer japanischen Künstlerresidenz zu. «Da ich Japan nicht kenne, wählte ich eine Künstlerresidenz, die ich kannte», sagt Stamm, «nämlich das Vermont Studio Center in Johnson.»

In seinem neuen Buch erzählt Stamm die Geschichte «In den Aussenbezirken» aus dem erfolgreichen Erzählband «Blitzeis» (1999) neu. Damals gab der Ich-Erzähler an Heiligabend einer jungen Frau in New York Feuer für eine Zigarette, worauf sie noch um 20 US-Dollar bat, womit sie etwas zu essen kaufen würde und sie gemeinsam das Fest feiern könnten. Doch der Ich-Erzähler hatte kein Geld.

«‹Marcia aus Vermont› erzählt, was hätte passieren können, wenn er damals mitgegangen wäre», sagt Stamm. Und so klingt das nun: «Weihnachten ist der traurigste Tag des Jahres, und ich bin gerade etwas knapp bei Kasse und wollte nicht auch noch hungrig ins Bett gehen. Der Whisky hatte sie gesprächig gemacht und ein bisschen sentimental. Sie erzählte mir von ihrer Familie in Vermont, die sie seit Jahren nicht gesehen hatte.»

Auch bei Stamm ist es einige Zeit her, dass er dort war. «Aber ich kannte den Ort ja schon, hatte bei meinem Besuch vor einigen Jahren Fotos gemacht», sagt Stamm. «Ich musste nur noch ein paar Details recherchieren, das genaue Klima im Winter, weil ich den Ort nur im Sommer und im Herbst besucht hatte, die Biografie einer Fotografin, die in der Geschichte eine Rolle spielt, wann Jagdsaison ist und welcher Indianerstamm in der Gegend gelebt hatte.»

Frisch ist der Urahne der neuen Neuengland-Sehnsucht

Ein für Stamm prägendes literarisches Erlebnis aus dieser Gegend verfasste ausgerechnet ein anderer Schweizer: «‹Montauk› ist mein liebstes Buch von Max Frisch, wobei der Ort Montauk streng genommen nicht mehr zu Neuengland gehört.» Streng genommen liegt er in den Hamptons, wo auch Dickers neuer Roman spielt, 170 Kilometer von New York entfernt, zu dessen Staat Montauk gehört. Aber nur 30 Kilometer neben Neuengland.

In der autobiografischen Erzählung «Montauk» (1975) geht es um ein Wochenende, das Frisch (1911–1991) mit der damals 30-jährigen Verlagsangestellten Alice Locke-Carey dort verbrachte. In den posthum veröffentlichten «Entwürfen zu einem dritten Tagebuch» (2010) nimmt Frisch Bezug darauf und beschreibt ein Traumhaus: «Unsere herbstliche Fahrt durch New England war melancholisch, aber dort habe ich es zum ersten Mal gesehen. Im Vorbeifahren. Ein Pferd graste in der Wiese. Wenn sie zu Besuch kommt, könnte Alice reiten.»

«Was soll ich in Paris? Ich kann es mir vorstellen – von dieser ­Veranda aus», schreibt er weiter. Max Frisch ist so gewissermassen der Urahne der aktuellen Neu­england-Sehnsucht von Schweizer Schriftstellern.

Joël Dicker, «Das Verschwinden der Stephanie Mailer», Piper

Hansjörg Schertenleib, «Die Hummerzange», Kampa

Peter Stamm, «Marcia aus Vermont», S. Fischer; erscheint am 9. Oktober

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