«Ohne Intensivpflege hätte ich nicht überlebt»
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Covid-Alltag im Spital Grabs:«Ohne Intensivpflege hätte ich nicht überlebt»

Intensiv-Pfleger wollen den Menschen die Augen öffnen
«Ungeimpfte ändern ihre Meinung, wenn die Luftnot sie in Todesangst versetzt»

Vier Intensivspezialisten aus St. Gallen und Thun erzählen, wie sie mit ungeimpften Patienten umgehen, die zuerst die Realität verweigern und später hohe Anforderungen an die Pflegenden haben und spezielle Therapien verlangen.
Publiziert: 08.12.2021 um 14:24 Uhr
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Aktualisiert: 08.12.2021 um 15:39 Uhr

Tag und Nacht arbeiten sie auf Hochtouren, um Leben zu retten. Die Intensivpflegerinnen und Intensivpfleger in der Schweiz stossen zurzeit an ihre Grenzen. Die Anzahl freier Betten auf den Intensivstationen nimmt mit den steigenden Corona-Zahlen ab. Auch das Kantonsspital St. Gallen registrierte in der letzten Woche einen steilen Anstieg der Fälle. Miodrag Filipovic, Leiter der Intensivmedizin sagt gegenüber dem «Tages- Anzeiger»: «90 Prozent der Patienten sind ungeimpft. Sie sind im Durchschnitt 55 Jahre alt. Die meisten stehen voll im Leben.»

Viele würden für sich selber und ihre Angehörigen eine Maximaltherapie verlangen. «Therapien, von denen sie in der Zeitung gelesen haben, oder gar ein nutzloses Wurmmittel», so Filipovic weiter. «Viele erwarten den Einsatz von Lungenersatz-Maschinen, auch wenn dies nicht angezeigt ist.» Die Anzahl der in der Schweiz verfügbaren Geräte sei jedoch stark beschränkt. «Diese Anspruchshaltung macht mir Sorgen. Da zeigt sich ein übersteigerter Individualismus und Egoismus. Dabei brauchen wir jetzt Solidarität», sagt Filipovic.

«Viele Ungeimpfte dachten, ihnen passiere schon nichts»

Neben dem hohen Anspruch wollen Ungeimpfte den Ernst ihrer Lage oft nicht wahrhaben. Herbert Leuthold ist ebenfalls Intensivpfleger am Kantonsspital St. Gallen und sagt gegenüber der Zeitung: «Viele Ungeimpfte dachten, ihnen passiere schon nichts. Dann liegen sie im Intensivbett und sagen: ‹Es geht gut, es geht gut.› Und du weisst genau, es geht ihnen nicht gut.» Die Hälfte müsse früher oder später intubiert werden. Bei manchen warte der Tod. «Wir fühlen uns komplett ohnmächtig in diesen Situationen», so Leuthold.

Die steigenden Corona-Zahlen bringen die Spitäler in der Schweiz an ihre Belastungsgrenze – vor allem die Intensivstationen.
Foto: Keystone
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Wenn gleichzeitig viele Nicht-Covid-Patienten in schlechtem Zustand und Covid-Patienten intensivmedizinisch behandelt werden müssten, komme das Personal an ihre Grenzen. Leuthold sagt: «Die Qualität, die Sorgsamkeit, die Konzentration – alles leidet bei zu vielen Patienten. Du schaffst es nicht mehr.» Hinzukomme die Angst vor Fehlern, die man sich nachher nicht mehr verzeihen könne. «Wenn wir vor einem Verstorbenen stehen, können wir uns nicht einfach abwenden und sagen: ‹Es hat halt nicht mehr gereicht.› So funktionieren wir nicht.»

«Es gibt Patienten, die sich noch kurz vor der Intubation froh zeigen, dass sie infiziert wurden»

Im Spital Thun ist die Situation ähnlich. Laut Antje Heise, Leiterin der Intensivstation, würden manche Ungeimpfte die Realität verweigern. «Es gibt Patienten, die sich noch kurz vor der Intubation froh zeigen, dass sie infiziert wurden – weil sie so auch ungeimpft ein Zertifikat erhalten», sagt sie. Die Frage, warum sie nicht geimpft seien, würden die meisten abblocken. Dafür seien Ungeimpfte oft sehr fordernd, wenn es darum gehe, jede erdenkliche Therapie zu erhalten. «Einige verlangen, sofort in ein Zentrumsspital verlegt zu werden, auch wenn es gar nicht nötig ist», so Heise.

«Selbst Ungeimpfte, die bei Spitaleintritt mitteilen, dass sie nicht auf die Intensivstation wollen und eine künstliche Beatmung ablehnen, ändern ihre Meinung, wenn ihre Luftnot sie in Todesangst versetzt». Den Preis würden dann auch Nicht-Covid-Patienten zahlen, die keinen Platz mehr auf der Intensivstation erhalten und verlegt werden müssen.

Pfleger können nicht mehr jedem Patienten gerecht werden

Ihrer Arbeitskollegin Bettina Bergmann machen vor allem die persönlichen Schicksale zu schaffen. Ganze Familien seien betroffen. «Es kommt vor, dass beide Eltern innert weniger Tage an Covid-19 sterben. Ältere Menschen, die noch gut zurechtkamen und aktiv waren», sagt Bergmann. Auch jüngere Familienväter und -mütter würden sterben. «Es ist traurig, das mitansehen zu müssen.»

Vor einigen Tagen hatte das Team von Bergmann in einer Spätschicht eine Notfallsituation bei einem Nicht-Covid-Patienten mit einem akuten, massiven Blutdruckabfall. «Da geht es um Sekunden und um Leben und Tod», sagt sie. Gleichzeitig hätten auch noch die Beatmungsmaschine eines anderen Intensivpatienten Alarm geschlagen. «Normalerweise könnten die beiden verbleibenden Pflegenden helfen, doch die waren komplett absorbiert im Isolationszimmer bei den Covid-Fällen. Es ist die Ohnmacht, nicht mehr allem gerecht werden zu können, die am meisten zu schaffen macht.» (gin)

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