«Meistens kann ich es ziemlich gut wegpacken»
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Gewalt gegen Krankenpfleger:«Meistens kann ich es ziemlich gut wegpacken»

Gewalt an Spitälern verdoppelt
«Er schlug gegen die Tür und drohte, mich zu verletzen»

Alkoholisierte Randalierer, aggressive Eltern – an grossen Schweizer Spitälern interveniert der Sicherheitsdienst inzwischen mehrmals täglich. Anzeigen wegen körperlicher Gewalt haben sich in den letzten drei Jahren verdoppelt.
Publiziert: 19.05.2024 um 00:17 Uhr
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Aktualisiert: 19.05.2024 um 09:40 Uhr

Ein Drogensüchtiger verlangt von der Pflegerin im Nachtdienst spezielle Medikamente. Als sie sich weigert, läuft er mit einem Infusionsständer hinter ihr her und droht: «Wenn ich jetzt nichts kriege, schlage ich dich tot.» Sie schliesst sich im Sitzungszimmer ein, bis sich die Situation beruhigt. Diesen krassen Vorfall schildert der Pflegefachmann und Trainer für Aggressionsmanagement Stefan Reinhardt (54).

Über 70 Mal mussten die Kantonspolizeien letztes Jahr wegen solcher schweren Drohungen an Schweizer Spitälern und Kliniken aktiv werden. Das zeigt eine Auswertung des Bundesamts für Statistik für Blick.

Letztes Jahr registrierten die Kantonspolizeien rund 490 Gewaltstraftaten. Darunter fallen schwere Drohungen, Handgreiflichkeiten, einfache Körperverletzungen wie Knochenbrüche und schwere, oft lebensbedrohliche Körperverletzungen. Die Gewaltstraftaten nehmen seit Jahren zu. Einfache und schwere Körperverletzungen haben sich in den letzten drei Jahren gar verdoppelt: von 54 Fällen im Jahr 2021 auf 107 im letzten Jahr.

Ein Patient drohte Ärztin Eva-Maria Genewein (62): «Ich mache Sie zu einem schweren Notfall!»
Foto: Linda Käsbohrer
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«Er schlug gegen die Tür und drohte mir»

Eva-Maria Genewein (62) erzählt, wie sie nach einer langen Schicht auf der Notfallstation im Bürgerspital Solothurn nachts um drei die Haustür aufschloss, als das Telefon der Ärztin klingelte. «Du bist gefährdet», warnte sie eine Kollegin vom Empfang.

Ein Mann um die dreissig hatte sich gegen 22 Uhr im Notfall gemeldet, wegen Warzen an den Händen. Der Warteraum war komplett überlaufen, aber der Herr bestand darauf, sofort behandelt zu werden. «Ich gab ihm Medikamente gegen die Schmerzen und erklärte, dass ich zuerst eine andere schwer erkrankte Patientin behandeln muss», erinnert sich Genewein. «Er schlug wütend gegen die Tür. Als der Sicherheitsdienst intervenierte, drohte er: Ich werde die Ärztin aufsuchen und zu einem schweren Notfall machen.»

Genewein hatte Glück, wie sie sagt: «Das Spital schaltete noch in derselben Nacht die Polizei ein, und ich habe den Patienten nie wieder gesehen.» Heute leitet sie den Notfall in Langnau i. E. BE, wo es laut ihr kaum zu schweren Aggressionen kommt. Auf grösseren Notfallstationen in Städten erlebe das Personal aber immer wieder «ganz üble Szenen»: «Als ich am Inselspital Bern arbeitete, musste dort mehr als einmal die Spezialeinheit Enzian anrücken, zum Beispiel weil ein Mann eine Schusswaffe zückte.» Das Personal erlebe fast täglich verbale oder körperliche Gewalt.

Mehrmals am Tag Gewalt

Am Universitätsspital Zürich interveniert der Sicherheitsdienst mehrmals täglich. Letztes Jahr wurde er laut Angaben des Spitals rund 900 Mal eingeschaltet, meist wegen Beschimpfungen, Drohungen oder Handgreiflichkeiten gegen das Personal auf der Notfallstation. Am Inselspital Bern sind es laut Spital gar 2200 Mal im Jahr. Neben Zürich und Bern berichten auch das Unispital Basel und das Kantonsspital Luzern von einer Zunahme der Gewalt. Laut einer Umfrage des Fachportals Medinside nimmt die Gewalt an «fast allen» Schweizer Spitälern zu.

Ärztin Genewein sagt, dass lange Wartezeiten auf dem Notfall zu viel Frust führten, Personalknappheit verschärfe das Problem zusätzlich: «Gelingt es uns nicht, geduldig zu bleiben, weil wir selbst enorm unter Stress stehen, eskalieren Situationen, in denen ein paar verständnisvolle Worte vielleicht geholfen hätten.»

Gerade an Wochenenden und über Feiertage sei auf grösseren Notfällen die Flut von Patienten kaum noch zu bewältigen. «Es ist ein grosses Problem, dass es in der Schweiz keine Quoten dazu gibt, wie viel Personal es im Notfall pro Patienten braucht.» Patienten könnten lange Wartezeiten vermeiden und das Personal entlasten, indem sie sich anmelden.

Ängste erhöhen das Aggressionspotenzial

Auch die Direktorin des Schweizer Spitalverbands, Anne-Geneviève Bütikofer (51), führt die gestiegene Gewalt vor allem auf lange Wartezeiten in überfüllten Notfallstationen zurück, und ergänzt: «Teilweise ist vonseiten Patienten und Angehörigen wenig Verständnis dafür vorhanden, welche Fälle im Spital prioritär behandelt werden müssen.» Weil immer weniger Menschen einen Hausarzt oder eine Hausärztin hätten, würden diese mit ihren leichten Beschwerden häufiger den Notfall aufsuchen.

Laut Adrian Kaegi, ehemaliger Staatsanwalt für Gewaltkriminalität und Ärztefälle, erhöhen Schmerzen und Ängste das Aggressionspotenzial.

Aggressionstrainer Stefan Reinhardt kritisiert, dass viele Spitäler keine regelmässigen Schulungen zum Umgang mit Gewalt durchführen würden. «Das ist zwar ein Thema in der Ausbildung. Pflegefachleute sagen mir aber immer wieder, dass sie in schwierigen Situationen nicht genau wüssten, wie sie sich verhalten sollen.»

«Ich schlage Sie krankenhausreif!»

Auf dem Notfall würden oft Personen unter dem Einfluss von Alkohol oder Drogen auf Liegen hereingetragen, die offenkundig verletzt seien, aber die Situation komplett verkennen und sich dagegen wehren, behandelt zu werden. «Einer schrie uns trotz einer schweren Kopfverletzung an: Ich habe gefeiert, und zwar ordentlich. Aber jetzt will ich nach Hause gehen.»

In solchen Situationen helfe es meistens, wenn man offen sei für ein Gespräch. «Hat man hingegen einen autoritären Ton, führt das meist zu Gegenwehr und Gewalt. Zum Teil sind sich Pfleger und Ärzte dessen aber nicht bewusst.»

Der Aggressionstrainer räumt ein, dass auch er nicht immer ruhig bleibe: «Einmal befahl mir ein Mann, ihn mit dem Rollstuhl aus dem Spital zu tragen. Meine Kollegen hatten ihn in den Rollstuhl gesetzt, weil er unter dem Einfluss von Drogen stand, er wollte die Behandlung aber abbrechen. Ich sagte ihm, etwas unwirsch, dass ich gerade keine Zeit habe, weil ich einen Patienten mit einer allergischen Reaktion behandeln müsse. Daraufhin sprang er aus dem Rollstuhl und drohte, mich krankenhausreif zu schlagen. Rückblickend hätte ich Zeit gespart, wenn ich einen anderen Ton gewählt hätte.»

Traumatisierte Ärztinnen und Pfleger geben Job auf

Sogar in Kinderspitälern ist die Stimmung zunehmend aufgeheizt. Am Ostschweizer Kinderspital meldet das Personal im Schnitt zwei bis dreimal pro Monat aggressives Verhalten, meist Beleidigungen oder Drohungen. Sandra König, Leiterin vom Pflegedienst und Expertin für Aggressionsmanagement sagt, vor allem Männer würden aggressiv auf lange Wartezeiten reagieren, oft aus emotionaler Überforderung und Angst um ihre Kinder. Die Folge: Pflegende müssen sich regelmässig beschimpfen lassen – es fallen Sätze wie «Sie werden das bereuen!».

Die Aggressionen hätten sich gehäuft, sagt König. Im letzten Jahr habe sich die Situation aber verbessert. Dank regelmässiger Schulungen und Wiederholungskurse seien Mitarbeitende inzwischen geübt darin, heikle Situationen zu deeskalieren.

Für Ärztinnen und Pfleger sind die Aggressionen belastend: Laut dem Spitalverband führen körperliche Übergriffe beim Personal oft zu psychischen Problemen wie posttraumatischen Belastungsstörungen. Wenn das Fass überläuft, steigen viele aus dem Beruf aus. Konkrete Zahlen gibt es dazu keine. Bei der Hotline des Berufsverbands der Schweizer Ärzte melden sich aber immer mehr Ärztinnen und Ärzte, weil sie ihre Arbeit als stark belastend erleben.

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