Dominik Stillhart, Direktor der Operationen beim IKRK, über das Elend in Aleppo
«Das Letzte, was die Menschen brauchen, sind zynische Helfer»

Im Interview berichtet Dominik Stillhart über Elend und Hoffnung in Syrien. Und wie die Schweiz hilft.
Publiziert: 16.12.2016 um 00:00 Uhr
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Aktualisiert: 05.10.2018 um 02:42 Uhr
Hannes Britschgi

BLICK: Dominik Stillhart, das IKRK ist mit 60 Leuten in Aleppo im Einsatz. Was erleben die?
Dominik Stillhart:
Die Situation ist dramatisch. Seit 14 Tagen wird ununterbrochen gekämpft. Zehntausende flohen unter Feuer aus den umkämpften Quartieren im Osten. Einige haben Angehörige verloren oder mussten sie zurücklassen, weil sie zu alt oder zu verletzt waren.

Was ist mit dem freien Geleit?
Gestern haben wir es nach wochenlangen zähen Verhandlungen endlich geschafft, mehr als tausend Leute, viele von ihnen krank oder verwundet, zu evakuieren. Es ist unglaublich, dass diese Leute so lange in Ost-Aleppo überlebt haben.

Im Einsatz für die Schwächsten: An der Hochschule St. Gallen studierte Dominik Stillhart (52) Volkswirtschaft. Dann trat er dem ­Internationalen Komitee vom Roten Kreuz bei. Zehn Jahre war er Delegierter in Afrika. Während der Darfur-Krise arbeitete er im Sudan als Delegationsleiter, später in Israel und den besetzten Gebieten. 2006 wurde er stellvertretender Direktor Operationen, 2014 übernahm er die Direktion.
Foto: Anna Pizzolante

Wie kann das IKRK helfen?
Wir sind die einzige internationale humanitäre Organisation vor Ort. Unsere 60 Leute sind in West-Aleppo stationiert und können sich frei bewegen. Wir konzentrieren uns auf die Leute, die aus Ost-Aleppo herauskommen und traumatisiert sind. Wir verteilen in den kollektiven Notunterkünften Nahrungsmittel und Wasser, versorgen die Kranken medizinisch.

Rebellen evakuieren einen alten Mann in Ost-Aleppo.
Foto: AFP PHOTO
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Wie haben Sie erreicht, dass das IKRK an vorderster Front wirkt?
Wir haben seit Wochen mit allen Kriegsparteien verhandelt, dass wir uns vor allem um die Verletzten kümmern können. Unsere Leute sind wirklich am vordersten Checkpoint der Regierungstruppen präsent – zusammen mit dem Syrisch-Arabischen Roten Halbmond.

Sie arbeiten gut zusammen?
Der Rote Halbmond ist in jedem Dorf und in jeder Stadt präsent. Überall gibt es junge engagierte Helfer, die Medizin verteilen und die auf allen Seiten des Konflikts Gutes tun. Da sind smarte Leute, die sich gegenüber der Regierung in Damaskus einen gewissen Freiraum ­erarbeitet haben. Die syrische Rote-Halbmond-Bewegung hat Vorbildcharakter für die ganze Region.

Sie können mit allen Konflikt­parteien reden?
In Aleppo reden wir mit allen. In Ost-Aleppo gibt es verschiedene Gruppen, es ist alles extrem komplex.

Sie reden also mit den Iranern, die Bodentruppen im Einsatz haben, mit den Russen, die Bombenangriffe fliegen, mit den Türken ...
Wir reden mit allen, ausser mit Leuten vom Islamischen Staat.

Auch nicht via Intermediäre?
Nein. Wir versuchen es seit Jahren, aber haben es bis heute nicht geschafft.

Assads Regierungstruppen sollen Rebellen, die sich ergaben, massakriert haben. Andere seien in den berüchtigten Foltergefängnissen verschwunden. Hat das IKRK Zugang zu Kriegsgefangenen?
Die Situation ist besorgniserregend. Aber es ist ein solches Chaos vor Ort, dass wir keine Übersicht haben, was genau passiert. Da wir in Ost-Aleppo nicht vor Ort sind, können wir die Schreckensmeldungen selbst nicht überprüfen.

Hat das IKRK in Syrien grundsätzlich Zugang zu den Gefängnissen?
Wir haben Zugang zu den Gefängnissen, die dem Justizministerium unterstellt sind, aber wir haben keinen Zugang zu den Militärgefängnissen.

Und zu den Foltergefängnissen?
Wir versuchen weiterhin, alle Gefangenen zu besuchen, auf Seite der Regierung sowie auf Seite der bewaffneten Opposi­tion.

Regimegegner haben eine erschütternde Bilddokumentation über die Foltergefängnisse aus dem Land geschmuggelt. Wie viel muss passieren, bis das IKRK ein Folterregime öffentlich kritisiert?
Das IKRK handelt vorsichtig und denkt langfristig: Wie viel sagen wir öffentlich und wie wichtig ist uns, dass wir vor Ort den Unterschied ausmachen können? Diesen Einsatz für die Hilfsbedürftigen dürfen wir nicht gefährden. Aus diesem Grund ziehen wir das nicht öffent­liche Zwiegespräch mit den Autoritäten vor.

Wie geht der Krieg in Syrien weiter?
Es wird 2017 und 2018 noch schlimmer werden. Der Mittlere Osten durchlebt die grösste Krise seit dem Zerfall des Osmanischen Reichs. Es geht um Grenzziehungen. Es gibt die Auseinandersetzung zwischen Schiiten und Sunniten, und es gibt die verschiedenen Regionalmächte. Es ist der «perfekte Sturm».

Sie waren vor wenigen Tagen im Irak – in Erbil und an der Front in Mossul. Mossul dürfe kein zweites Aleppo werden, sagt das IKRK. Wie sieht es dort aus?
Die Situation ist mit Aleppo nicht zu vergleichen. Mossul ist mit einer Million Einwohnern die zweitgrösste irakische Stadt. Die Offensive gegen den IS zur Rückeroberung der Stadt hat erst die Vororte vom IS befreit, und jetzt beginnt der Häuserkampf – mit einer Mil­lion Menschen in der Stadt!

Sterben in Aleppo, in Mossul ...
Was uns Sorgen macht, dass wir in Syrien, im Irak oder Jemen immer öfter mittelalterliche Belagerungskriege sehen, in denen die Zivilbevölkerung zwischen die Fronten gerät.

Welches sind die grossen Herausforderungen für das kommende Jahr?
Der Mittlere Osten ist ganz klar das Zentrum unserer Operationen. Dort haben wir massiv Mittel investiert. Unser Jahresbudget beträgt 1,6 Mil­liarden Franken. Ein Drittel davon geht allein in diese Region – insbesondere nach Syrien, in den Irak, nach Jemen, Israel und in die besetzten Gebiete. Ein grosser Teil unserer Energie, Sorgen und Anstrengungen sind in diesem Gebiet gebunden.

Dann sicher auch Afrika.
Ganz klar, mit 40 Prozent unseres Budgets. Hier steht die Region des Tschadsees im Nordosten von Nigeria im Fokus. Dort herrscht eine dramatische humanitäre Situation, die niemand wahrnimmt. Dabei sind dort in den letzten zwei Jahren über zwei Millionen Menschen vertrieben worden. Über eine halbe Million Menschen befinden sich am Rande einer Hungersnot.

Das IKRK muss auch für das Jahr 2017 wieder ein Jahresbudget von 1,6 Milliarden Franken stemmen.
Es ist extrem wichtig, dass die Donatoren bei uns bleiben. Das verlangt von uns einen unglaublichen Effort, denn die Staaten wollen überzeugt werden.

Was bedeutet die Wahl Trumps fürs IKRK?
(Seufzt tief) Wir wissen es nicht. Die USA sind mit 25 Prozent unseres Budgets grösster Geldgeber!

Wie viel zahlt die Schweiz?
160 Millionen. Zehn Prozent.

Seit 25 Jahren sind Sie beim IKRK und müssen mit immer neuen ­Superlativen den Donatoren die Schrecken der Welt vor Augen führen. Nie müde oder zynisch?
Sie können als Delegierter beim IKRK nicht ein Weltverbesserer sein. Das könnte keiner aushalten. Es gibt Zyniker unter uns. Aber ich finde, es ist das Letzte, was die Leute brauchen: zynische Helfer aus dem Westen. Man darf auch einmal sagen: Ich habe Angst. Als junger Delegierter sass ich in Somalia, ohne Funkverbindung, ohne nichts. Monatelang mutterseelenalleine. Manchmal habe ich am Abend im Hotelzimmer geweint. Warum kommt mir niemand helfen? Das geht doch nicht! Heute sind unsere Leute besser betreut. Auch psychologisch.

Gibt es eine Schweizer Qualität, die Ihnen im Beruf hilft?
Der Schweizer Pragmatismus. Wir reiten nicht auf Prinzipien herum. Vielmehr versuchen wir immer, Teil der Lösung zu sein. 

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