Bundespräsidentin Sommaruga empfängt Holocaust-Überlebende
«Darauf haben wir 75 Jahre gewartet»

Simonetta Sommaruga trifft im Bundeshaus über 50 Holocaust-Überlebende aus allen Landesteilen. In ihrer Rede anerkennt die Bundespräsidentin zum ersten Mal das Leid von Schweizer KZ-Häftlingen – und bezeichnet das Verhalten des Bundes ihnen gegenüber als «kaltherzig».
Publiziert: 19.01.2020 um 23:44 Uhr
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Aktualisiert: 27.11.2020 um 19:29 Uhr
Benno Tuchschmid

Dieser Tag geht ihn die Geschichte ein. «Darauf warten wir seit 75 Jahren», sagt Fishel Rabinowicz (95). Er wurde als 21-Jähriger aus dem KZ Buchenwald befreit. Nun sitzt er gemeinsam mit über 50 weiteren Holocaust-Überlebenden aus allen Landesteilen in einem festlich geschmückten Saal im Bernerhof, wo der Bundesrat sonst für ausländische Würdenträger Staatsempfänge ausrichtet. Es ist das erste Mal, dass die offizielle Schweiz Shoa-Überlebende empfängt. Bundespräsidentin Sommaruga hat sie gemeinsam mit einer Gruppe Geschichtsstudenten der Uni Bern und in Zusammenarbeit mit der Gamaraal Foundation zu einem Austausch eingeladen. Das Treffen findet im Vorfeld zum 75. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz-Birkenau statt.

Es ist in der Öffentlichkeit nur wenig bekannt: In der Schweiz leben zwischen 400 und 600 Holocaust-Überlebende. Sie alle kamen nach dem Zweiten Weltkrieg in die Schweiz, die meisten von ihnen aus Ungarn, Polen und der ehemaligen Tschechoslowakei. Dazu kommen mindestens 391 Schweizerinnen und Schweizer, die während des Zweiten Weltkriegs als Schweizer Bürger in deutschen Konzentrationslagern inhaftiert waren. Widerstandskämpfer, Juden, Sozialisten, «Asoziale», Zeugen Jehovas, Sinti und Roma. Von ihnen lebt heute keiner mehr.

Die Schweiz behandelte KZ-Häftlinge schlecht

Die Schweiz tat sich im Umgang mit ihren KZ-Häftlingen lange schwer. Ein kürzlich erschienenes Buch («Die Schweizer KZ-Häftlinge») deckte auf, wie der Bund während des Zweiten Weltkriegs Schweizer KZ-Häftlinge im Stich liess. Nun anerkennt mit Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga zum ersten Mal eine Vertreterin des Bundesrats: «Auch gebürtige Schweizerinnen und Schweizer (…) fielen der unmenschlichen Verfolgungspolitik zum Opfer». Nach dem Krieg seien diese «kaltherzig behandelt» worden.

Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga mit der Holocaust-Überlebenden Paulette Angel Rosenberg (92) im Bernerhof in Bern.
Foto: © 2020 Béatrice Devènes
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In ihrer Rede richtet Simonetta Sommaruga ihre Worte direkt an die anwesenden Überlebenden: «Sie wurden von den Nazis und ihren Mittätern verfolgt und Sie haben viel Unheil erlitten. Das Mindeste, was wir tun können, ist Ihnen zu zeigen, dass Sie und Ihre Familien bei uns gut aufgehoben sind.»

Ivan Lefkovits (82)

Es ist uns eine grosse Ehre, dass die offizielle Schweiz Stellung nimmt –und uns so freundlich empfängt. Es kommt zwar spät, für manche Schweizer KZ-Überlebende zu spät. Viele sind mittlerweile verstorben. Das lange Zögern der Schweiz hat vielleicht damit zu tun, dass nach dem Zweiten Weltkrieg auch in der Schweiz viele Personen in hohen Funktionen kein Interesse hatten, die Vergangenheit aufzuarbeiten. Es dauerte ja auch lange, bis Paul Grüninger rehabilitiert wurde. Ich selbst kam 1937 in der Tschechoslowakei zur Welt und wurde 1944 als Sechsjähriger mit meiner Mutter und meinem 15-jährigen Bruder Paul ins KZ Ravensbrück deportiert. Paul kam ins Männerlager und wurde getötet. Meine Mutter und ich überlebten. Bei der Befreiung war ich todkrank. Manchmal denke ich, dass das KZ in meinem Leben heute keine Rolle mehr spielt. Aber als ich kürzlich in Schottland eine Zugreise machte und in der Nacht die Räder unseres Schlafwagens quietschten – da war ich plötzlich wieder im Lager.

Ivan Lefkovits (82) aus Basel ist ehemaliges Vorstandsmitglied der «Kontaktstelle für Überlebende des Holocaust in der Schweiz». Er war als kleiner Junge in den KZ Ravensbrück und Bergen-Belsen inhaftiert.

Es ist uns eine grosse Ehre, dass die offizielle Schweiz Stellung nimmt –und uns so freundlich empfängt. Es kommt zwar spät, für manche Schweizer KZ-Überlebende zu spät. Viele sind mittlerweile verstorben. Das lange Zögern der Schweiz hat vielleicht damit zu tun, dass nach dem Zweiten Weltkrieg auch in der Schweiz viele Personen in hohen Funktionen kein Interesse hatten, die Vergangenheit aufzuarbeiten. Es dauerte ja auch lange, bis Paul Grüninger rehabilitiert wurde. Ich selbst kam 1937 in der Tschechoslowakei zur Welt und wurde 1944 als Sechsjähriger mit meiner Mutter und meinem 15-jährigen Bruder Paul ins KZ Ravensbrück deportiert. Paul kam ins Männerlager und wurde getötet. Meine Mutter und ich überlebten. Bei der Befreiung war ich todkrank. Manchmal denke ich, dass das KZ in meinem Leben heute keine Rolle mehr spielt. Aber als ich kürzlich in Schottland eine Zugreise machte und in der Nacht die Räder unseres Schlafwagens quietschten – da war ich plötzlich wieder im Lager.

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Paulette Angel Rosenberg (92)

Ich habe vor kurzem meine Schwester Sophie Rosenberg verloren. Wir waren 1942 zusammen im Sammel- und Durchgangslager Drancy bei Paris interniert. Das Lager galt als letzte Station vor Auschwitz. Von dort gingen die Deportationszüge in den Osten. Meine Schwester und ich waren überzeugt, dass wir sterben würden. Durch die Hilfe eines Bekannten, kamen wir aus dem Lager frei. Bei der Befreiung wurde ich für einige Zeit von meiner Schwester getrennt. Das war schrecklich. Nun ist sie tot. Ihr Verlust schmerzt mich sehr, wir haben so viel zusammen durchgemacht. Aber für mich war trotzdem klar: Wenn Bundespräsidentin Sommaruga zum Essen einlädt, muss ich dabei sein. Diese Einladung bedeutet sehr viel für mich. In die Schweiz kam ich mit meinem Mann Henri im Jahr 1953. Seit einigen Jahren erzähle ich Schülern in Genf meine Geschichte. Ich war bestimmt 15 Mal in Schulen zu Besuch. Ich hätte nie gedacht, dass meine Geschichte so viele junge Menschen berührt.

Paulette Angel Rosenberg (92) aus Genf wurde aus dem Sammellager Drancy bei Paris befreit.

Ich habe vor kurzem meine Schwester Sophie Rosenberg verloren. Wir waren 1942 zusammen im Sammel- und Durchgangslager Drancy bei Paris interniert. Das Lager galt als letzte Station vor Auschwitz. Von dort gingen die Deportationszüge in den Osten. Meine Schwester und ich waren überzeugt, dass wir sterben würden. Durch die Hilfe eines Bekannten, kamen wir aus dem Lager frei. Bei der Befreiung wurde ich für einige Zeit von meiner Schwester getrennt. Das war schrecklich. Nun ist sie tot. Ihr Verlust schmerzt mich sehr, wir haben so viel zusammen durchgemacht. Aber für mich war trotzdem klar: Wenn Bundespräsidentin Sommaruga zum Essen einlädt, muss ich dabei sein. Diese Einladung bedeutet sehr viel für mich. In die Schweiz kam ich mit meinem Mann Henri im Jahr 1953. Seit einigen Jahren erzähle ich Schülern in Genf meine Geschichte. Ich war bestimmt 15 Mal in Schulen zu Besuch. Ich hätte nie gedacht, dass meine Geschichte so viele junge Menschen berührt.

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Fishel Rabinowicz (95)

Ich wuchs mit meiner Familie im polnischen Sosnowiec auf, wo 27'000 Juden lebten. Als die Deutschen die Stadt eroberten, ging die Judenverfolgung sofort los. Meine Familie zählte 35 Personen. Überlebt haben den Holocaust zwei Brüder, ein Cousin und ich. Alle anderen wurden vernichtet. Ich selbst war von 1941 bis 1943 Arbeitssklave in verschiedenen Lagern. Im Februar kam ich ins KZ Kittlitztreben in der Nähe von Stettin. Dort gab man mir die Nummer 19037. Kurz bevor das Lager aufgelöst wurde, am 9. Februar 1945, selektierten die Deutschen 1200 Häftlinge. Wir mussten 55 Tage ins rund 400 Kilometer entfernte KZ Buchenwald marschieren. Nur 746 Häftlinge überlebten. Ich selbst konnte in Buchenwald nicht mehr stehen, so entkräftet war ich. Nach einer Woche befreiten uns US-Soldaten. Im Juli 1947 kam ich nach Davos – um meine Wunden zu heilen. Die Schweiz hat mir viel gegeben. Hier wurde ich wieder gesund. Hier lernte ich einen Beruf. Hier verliebte ich mich in meine Frau. Es ist sehr schön, aber auch höchste Zeit, dass die offizielle Schweiz uns empfängt. Darauf warten wir seit 75 Jahren.

Fishel Rabinowicz (95) aus Locarno überlebte das KZ Buchenwald und mehrere Jahre Zwangsarbeit.

Ich wuchs mit meiner Familie im polnischen Sosnowiec auf, wo 27'000 Juden lebten. Als die Deutschen die Stadt eroberten, ging die Judenverfolgung sofort los. Meine Familie zählte 35 Personen. Überlebt haben den Holocaust zwei Brüder, ein Cousin und ich. Alle anderen wurden vernichtet. Ich selbst war von 1941 bis 1943 Arbeitssklave in verschiedenen Lagern. Im Februar kam ich ins KZ Kittlitztreben in der Nähe von Stettin. Dort gab man mir die Nummer 19037. Kurz bevor das Lager aufgelöst wurde, am 9. Februar 1945, selektierten die Deutschen 1200 Häftlinge. Wir mussten 55 Tage ins rund 400 Kilometer entfernte KZ Buchenwald marschieren. Nur 746 Häftlinge überlebten. Ich selbst konnte in Buchenwald nicht mehr stehen, so entkräftet war ich. Nach einer Woche befreiten uns US-Soldaten. Im Juli 1947 kam ich nach Davos – um meine Wunden zu heilen. Die Schweiz hat mir viel gegeben. Hier wurde ich wieder gesund. Hier lernte ich einen Beruf. Hier verliebte ich mich in meine Frau. Es ist sehr schön, aber auch höchste Zeit, dass die offizielle Schweiz uns empfängt. Darauf warten wir seit 75 Jahren.

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