BLICKpunkt von Christian Dorer über Johann Schneider-Ammann
Das Schweigen

In der Schweiz ist vieles anders: So scheint es niemanden zu stören, dass ein Mitglied der Landesregierung immer wieder an Sitzungen einnickt.
Publiziert: 21.09.2018 um 21:36 Uhr
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Aktualisiert: 21.01.2019 um 11:17 Uhr
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Christian Dorer

Bundeshausjournalisten wissen mehr, als sie schreiben. Über die Liebschaften hochrangiger Politiker, über deren missratene Kinder, gelegentliche Alkoholexzesse oder gar Krankheiten. In solchen Fällen tuschelt zwar tout Bern, aber öffentlich wird vielsagend geschwiegen.

Die «Schweiz am Wochenende» hat eines dieser Tabus zum Thema gemacht und gedruckt, was Insider schon lange wissen: Bundesrat Johann Schneider-Ammann nickt bei wichtigen Gesprächen regelmässig ein. Zum Beispiel bei den Von-Wattenwyl-Gesprächen zwischen Landesregierung und Parteispitzen am 31. August und in der Sitzung der Wirtschaftskommission vom 4. September.

Und jeder im Bundeshaus kennt ähnliche Anekdoten: Dass Gesprächsleiter dafür sorgen, den FDP-Politiker rechtzeitig vor Voten anzustupsen. Dass Schneider-Ammann seine Nickerchen sogar bei der wöchentlichen Bundesratssitzung zu halten pflegt. Dass ein Veranstalter seinen prominenten Gast, der in der vordersten Reihe döste, mit einem besonders lauten «Willkommen, Herr Bundesrat Schneider-Ammann!» ins Hier und Jetzt zurückgeholt und auf die Bühne komplimentiert habe.

Aus solchen Erzählungen sprechen Spott und Belustigung, aber auch Sorge um die Gesundheit des 66-Jährigen, der zunehmend müde und abgekämpft wirkt.

Zu Schneider-Ammanns gelegentlichen Aussetzern erklärt sein Sprecher, der Magistrat leiste «im In- und Ausland einen enormen Einsatz für die Schweiz. Es ist normal, dass das intensive Programm ab und zu Spuren hinterlässt in Form von Müdigkeit». Was soll der gute Mann auch sagen, wenn ihm sein Job lieb ist?

Warum aber tuscheln alle nur im Hintergrund? Warum stellt niemand öffentlich die naheliegende Frage, ob sich die Schweiz einen müden Wirtschaftsminister leisten kann und will?

In jedem anderen Land wäre das ein grosses Thema. Angela Merkel etwa würde einen müden Minister eiskalt auswechseln. Und Donald Trump ihn mit einer Twitter-Kanonade hinrichten.

Doch die Schweiz tickt anders: Erstens hat Johann Schneider-Ammann angekündigt, spätestens 2019 zurückzutreten. Da will ihm niemand mehr auf die Sprünge helfen.

Zweitens hat er seinen Job im Grunde nicht schlecht gemacht. Er treibt die Digitalisierung voran, er wagt die Konfrontation mit den Bauern, er kämpft engagiert für die Schweizer Wirtschaft.

Drittens ist unser Land so stabil, dass die Dinge hier auch dann ihren Lauf nehmen, wenn Minister mal eine Sitzung verschlafen. Oder zwei ...

Natürlich droht der Schweiz deshalb keine Gefahr. Was aber treibt Schneider-Ammann an, sichtlich leidend weiterzumachen? Will er wegen des bösen Gemurmels um ihn herum erst recht bis Ende 2019 durchhalten? Oder hat er nur Jasager um sich geschart, die solche unangenehmen Äusserungen von ihm fernhalten?

Diese Woche sprach ich mit einem Ständerat, der 2019 überraschend nicht mehr antritt, obwohl er noch voll im Saft steht. Auf meine Frage nach seinen Motiven sagte er bloss: «Die Friedhöfe sind voller Menschen, die unersetzbar waren.»

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