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Wie bei Selenski aus Witz Ernst wurde

Das Leben von Wolodimir Selenski scheint einem Drehbuch zu folgen. Nur dass er jetzt nicht mehr die Rolle in einer ukrainischen Fernsehserie spielt, sondern die Rolle seines Lebens auf der Weltbühne.
Publiziert: 23.08.2022 um 06:00 Uhr
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Aktualisiert: 20.08.2022 um 15:18 Uhr
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Daniel ArnetRedaktor Gesellschaft / Magazin

In welchem Land er sich auch immer zeigt, es gibt Standing Ovations: Die Weltbühne zu rocken, das hätte sich der ehemalige Schauspieler und Komiker wohl nie erträumt. Früher kannte man den studierten Juristen bloss in seiner Heimat, wo er zum TV-Star avancierte. Doch der Ruhm strahlte vom Nachbarland aus, wo seine Karriere ihren Anfang nahm. Und ausgerechnet dieses Nachbarland bekriegt ihn jetzt. Sein Name: Wolodimir Selenski (44). Seine Funktion: Präsident der Ukraine.

«Man hatte ihn in den grossen Konzertsälen von Moskau, Kiew, Odessa, Jurmala, Minsk und anderswo in der ehemaligen Sowjetunion bejubelt, überall hatte der Stern des Wolodymyr Selenskyi hell gestrahlt», schreibt der ukrainische Journalist Sergii Rudenko (51) in seiner kürzlich erschienenen «politischen Biografie» zum ukrainischen Präsidenten. In 38 Episoden umreisst Rudenko das aufregende Leben Selenskis und zeichnet so ein facettenreiches Bild des Kriegspräsidenten wider Willen.

Doch beginnen wir von vorne: «Am 25. Januar 1978 wurden die Eheleute Oleksandr und Rymma Selenski in Krywyj Rih Eltern eines Sohnes, den sie Wolodimir nannten.» Seine Lehrerinnen und Lehrer erinnern sich an ein fleissiges und intelligentes Kind, das es vor allem auf die Bühne zog – «in den Chor, in die Tanzgruppe oder in die Schulmannschaft des ‹Klubs der Witzigen und Schlagfertigen›.» In diesem Klub, einem sehr populären TV-Format in der ehemaligen Sowjetunion, begann Selenskis Karriere im Showgeschäft.

Im Kampf für sein Land: Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski.
Foto: imago images/sepp spiegl

Am 26. Dezember 1997 steht er mit seiner Truppe «Transyt» in der letzten Runde: «Ein episches Finale. Absolute Feindschaft. Die offensichtliche Überlegenheit der Truppe ‹Transyt›. Das Unentschieden und die Enttäuschung. Alles in den heiligen Hallen des Moskauer Palastes der Jugend.» Selenski gründet daraufhin das eigene Studio «Kwartal 95», das 2015 bis 2019 die TV-Serie «Diener des Volkes» produziert. Darin spielt Selenski einen Geschichtslehrer, der wider Willen zum Präsidenten wird.

2019 wählen die Ukrainer Selenski tatsächlich zu ihrem Präsidenten – mit überwältigenden 73,22 Prozent der Stimmen. Wie in seiner Rolle für «Diener des Volkes» will er mit der Korruption aufräumen. Und wie im Fernsehen scheitert er in der Realität. «Kurz gesagt hielt Selenski sein vor der Wahl gegebenes Versprechen nicht ein», schreibt Rudenko. Innerhalb eines Jahres nach seiner Wahl sei der Clan seines Vorgängers Poroschenko durch den Clan von Selenski ersetzt worden, «genauer gesagt von Studio Kwartal 95».

Bei aller Sympathie für seinen Präsidenten lässt Rudenko da und dort Kritik durchschimmern. So erzählt er auch die Episode über den «Skandal von Jurmala»: An einem Festival der lettischen Stadt vergleicht Selenski in einer Parodie über Poroschenko die Ukraine mit einer Pornodarstellerin: «Kriegt nie genug und am liebsten von allen Seiten.» Ein geschmackloser Witz, dem dieses Jahr der bittere Ernst gefolgt ist.

Sergii Rudenko, «Selenskyj. Eine politische Biografie», Hanser

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