Zur Sache! Neue Non-Fiction-Bücher
Sharing und Urban Gardening gab es schon im Mittelalter

«Es kommt nicht darauf an, die Welt zu verbessern, sondern darauf, sie zu verschonen.» Den Gedanken des Philosophen Odo Marquard (1928–2015) greift dieses Buch auf und liefert Rezepte aus der Vergangenheit.
Publiziert: 20.07.2021 um 06:00 Uhr
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Aktualisiert: 20.07.2021 um 10:39 Uhr
ausgelesen von Dr. phil. Daniel Arnet

Bei uns im Haus ist der Wäschetrockner kaputt. Die Elektronik tut nicht mehr. Reparieren? Fehlanzeige. Eine neue Maschine müsse her, sagt der Mann vom Service. Dabei ist die Trommel noch einwandfrei, und aussen hat das siebenjährige Gerät keinen Lackschaden. So viel neuwertiges Metall zum alten Eisen zu legen, das scheint wenig nachhaltig – um es mit einem zurzeit angesagten Wort auszudrücken.

«Wegwerfgesellschaften sind historisch betrachtet kurzfristige Ausnahmephänomene», schreibt die deutsche Historikerin Annette Kehnel (57) in ihrem eben erschienenen Buch «Wir konnten auch anders – eine kurze Geschichte der Nachhaltigkeit». Die Mittelalterforscherin zeigt darin äusserst eindrücklich auf: Nachhaltigkeit mag ein neuer Begriff sein, aber das entsprechende menschliche Verhalten ist uralt. Kehnel empfiehlt deshalb: «Wenden wir uns der Vergangenheit zu, um die Zukunft besser in den Blick nehmen zu können.»

Recycling, Crowdfunding, Urban Gardening, Sharing: All diese neumodischen Anglizismen lebten die Menschen schon lange vor uns aus, wenn auch nicht unter diesen Begriffen. «Es fällt uns heute schwer, die Geschichte der Menschheit nicht als eine Geschichte des Fortschritts und Aufstiegs zu erzählen», schreibt Kehnel. Und sie belegt, dass wir oft ein zu düsteres Bild von der Vergangenheit zeichnen; mit einem Seitenhieb gegen ihren US-Kollegen Steven Pinker (66) schreibt sie: «Hausten unsere Vorfahren von Läusen und Parasiten befallen über Kellern, in denen sich ihre eigenen Exkremente häuften? Die Antwort ist ein klares Nein.»

Sozialer Wohnungsbau in Augsburg, eingeführt durch die Fugger.
Foto: imago stock&people
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Klöster predigen ab dem Jahr 540 das Teilen; in Beginenhöfen der flämischen Städte, eine Art frühe WG, bauen Frauen ab dem 13. Jahrhundert Gemüse an; und die Augsburger Fugger führen ab 1510 mit einer Stiftung den sozialen Wohnungsbau ein. «Die Wohnungen waren für damalige Verhältnisse grosszügig, die Grundrisse gut durchdacht, und sie massen zwischen 45 und 60 Quadratmeter mit Küche, Stube und ein bis zwei Kammern», so Kehnel. Das geschah alles aus Notwendigkeit. «Nachhaltigkeit ist keine Erfindung der Moderne», schreibt sie weiter. «Nachhaltigkeit ist die einzige Überlebensstrategie, die wir haben.»

Recycling gehört auch dazu. Doch Schuhmacher und Handydoktor sind die einzigen Reparaturberufe, die uns heute noch einfallen. Im Mittelalter gab es ein richtiges Reparaturgewerbe, so etwa in Frankfurt am Main, wo sogenannte Ruszen, Lepper und Plecker auf Messen und Märkten Messer, Töpfe oder Kleider flickten. «Wann eigentlich haben die Menschen aufgehört zu reparieren?», fragt Kehnel. Und stellt den provozierenden Satz in den Raum: «Ist möglicherweise auch ein Leben ohne Waschmaschine lebenswert?» Sie will damit die Vergangenheit nicht beschönigen, aber anregen, von ihr zu lernen.

Annette Kehnel, «Wir konnten auch anders – eine kurze Geschichte der Nachhaltigkeit», Blessing

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