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Lexikon der Genauigkeit aus der Schweiz

Historisch gesehen ist Genauigkeit ein überraschend junges Konzept. Dieses vergnügliche Nachschlagewerk benennt verschiedene Facetten, in denen sich Präzision heute präsentiert – von der «Farbtreue» bis zur «Passgenauigkeit».
Publiziert: 31.08.2021 um 06:00 Uhr
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Aktualisiert: 28.08.2021 um 13:38 Uhr
Ausgelesen von Dr. phil. Daniel Arnet

Ist Ihnen das auch schon aufgefallen? Wenn Leute mit Ihnen sprechen, setzen sie häufig ein stark betontes «Genau!» hinter den letzten Satz – als müssten sie Ihre Aussage bekräftigen. Oder hat es damit zu tun, dass wir in der exakt-präzisen Schweiz leben? Ist das «Genau!» also ein Markenzeichen made in Switzerland? Und die Sprechenden outen sich als Hiesige, die pingelig genau darauf achten, was sie sagen und kein My davon abrücken wollen?

«Mit der Schweiz sind viele Eigenschaften und Stereotype assoziiert, so auch die Schweizer Präzision: sei es bei der Fertigung von Messern, beim Messen der Zeit oder gar beim Vermessen der Nation selber», steht in der kürzlich erschienenen «Enzyklopädie der Genauigkeit». Und wie wenn nicht schon genug Klischees bedient worden wären, verdankt sich dieses Nachschlagewerk dem Schweizerischen Nationalfond und ist eine Zusammenarbeit der Universitäten Basel und Zürich in Kooperation mit der Columbia University New York.

Angelehnt an die «Encyclopédie» – das grosse Wissenswerk des französischen Aufklärers Denis Diderot (1713–1784) – erscheint dieses neuzeitliche interdisziplinäre Lexikon unter der Leitung von Markus Krajewski (49), Professor für Medienwissenschaft an der Universität Basel. Die Referenz ist kein Zufall, denn: «Erst im Zeitalter der Aufklärung sowie der damit verbundenen Blüte wissenschaftlicher, aber auch handwerklicher Praktiken (…) finden Begriffe wie Exaktheit, Präzision und ihre Verwandten eine breite Verwendung.»

Genauigkeit als Markenzeichen: Bahnhofsuhr vor dem SBB-Hauptsitz in Bern.
Foto: Keystone

Wie beim historischen Vorbild umreisst hier eine Heerschar von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern eine Masse an Begriffen: 45 Autorinnen und Autoren schreiben gegen 50 Essays zu alphabetisch geordneten Themen von «Autopsie und Augenlust» über «Farbtreue» bis zu «Wetterprognose». Die Texte gehen immer der Frage nach: «Wie funktioniert die Herstellung und Darstellung von möglichst exaktem Wissen? Mit welchen Mitteln, Medien und Kulturtechniken lassen sich die Funktionsweise und Wirksamkeit von Praktiken, die möglichst genau zu sein versprechen, für eine jeweilige Fachkultur sichern und entfalten?»

Gleich der erste Beitrag «Auf einen Blick» gibt anschaulich Antwort: Die Britin Florence Nightingale (1820–1910), Erfinderin der modernen Krankenpflege, reist 1854 nach Scutari, dem heutigen Istanbuler Stadtteil Üsküdar, zu einem Lazarett mit verwundeten Landsmännern aus dem Krimkrieg. Um der Londoner Armeeführung zu verdeutlichen, dass die Soldaten nicht (wie fälschlich angenommen) an Verletzungen, sondern an Typhus, Cholera und Ruhr sterben, gestaltet sie ein mehrfarbiges Diagramm mit den Todesursachen – eine erste Infografik ist geboren. Und sie zeigt: Genauigkeit und Anschaulichkeit müssen sich nicht widersprechen.

Markus Krajewski u. a. (Hrsg.), «Enzyklopädie der Genauigkeit», Konstanz University Press

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