Zur Sache! Neue Non-Fiction-Bücher
Largo plädiert für mehr Solidarität

Was Hänschen lernt, hilft Hans immerzu: Der berühmte Schweizer Kinderarzt Remo H. Largo erschafft aus seinen Erkenntnissen von den Kleinsten ein visionäres Gesellschaftsmodell für die Grossen und will damit den Planeten retten.
Publiziert: 20.09.2020 um 09:49 Uhr
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Aktualisiert: 12.03.2021 um 18:30 Uhr
ausgelesen von Dr. phil. Daniel Arnet

Wir leben in einer merkwürdigen Zeit. Einerseits hatten wir noch nie in der Geschichte der Menschheit so grosse Bewegungsfreiheit und Möglichkeiten, uns zu treffen, andererseits ziehen wir uns immer mehr in unsere Kämmerchen zurück – freiwillig und dieses Jahr noch coronabedingt. Einerseits sind wir soziale Wesen, andererseits Individualisten. Wir bringen diese beiden Eigenschaften immer weniger unter einen Hut und haben auch keine Idee, wie wir diesen Zustand ändern könnten.

«Wir leben in einer merkwürdigen Zeit», schreibt Remo H. Largo (76) in seinem neuen Buch, «einer Zeit ohne politische Theorien, Ideologien oder gar Visionen.» Es scheine kein Bedarf dafür zu bestehen, weil wir noch im Wohlstand schwelgen. Und Largo zitiert den deutschen Philosophen Herbert Schnädelbach (84): «Die vollkommene Anpassung des Bewusstseins und seine objektive Unfähigkeit, sich Alternativen zum Bestehenden auch nur vorzustellen, ist die Ideologie der Gegenwart.»

Doch Largo hat noch Visionen. Der renommierte Schweizer Kinderarzt will die Gesellschaft mit dem Fit-Prinzip, das er bereits in seinen Bestsellern «Babyjahre» und «Kinderjahre» skizzierte, in Einklang bringen: Ihm schwebt eine solidarische Gesellschaft vor, in der alle ihre Einzigartigkeiten ausleben können. Listigerweise nennt er deshalb sein neues Buch «Zusammen leben». Es geht also nicht primär ums Zusammenleben, sondern um ein gemeinsames Leben neben- und füreinander mit An- und Abstand.

Früher mussten die Menschen notgedrungen zusammenleben, um sich gegen die mächtige Umwelt zu behaupten. Und heute? «Wir beherrschen die Umwelt», so Largo. «Nicht aber uns selbst!» Das habe der Mensch nie gelernt, musste er ja auch nicht – mit fatalen Folgen: Klimaerwärmung und Insektensterben stellen das Erreichte in Frage, katapultieren uns allenfalls zurück, machen vielleicht sogar ein Weiterleben unserer Spezies unmöglich. Deshalb fordert Largo zudem: «Wenn wir zukünftigen Generationen einen lebenswerten Planeten erhalten wollen, müssen wir solidarisch mit der Natur sein.»

«Das Fit-Prinzip für Gemeinschaft, Gesellschaft und Natur» heisst das Buch folgerichtig im Untertitel. Wie fit wir wirklich sind, zeigt sich speziell in diesem Jahr. «Die Corona-Pandemie stellt uns vor eine epochale Bewährungsprobe», schreibt Largo zum Schluss. «Wenn wir sie und zukünftige Pandemien erfolgreich bekämpfen wollen, braucht es eine weltweite Solidarität: Alle 7,8 Milliarden Menschen müssen geimpft werden.» Dass da wirklich alle Menschen zusammenhalten, muss allerdings leider bezweifelt werden.

Remo H. Largo, «Zusammen leben – das Fit-Prinzip für Gemeinschaft, Gesellschaft und Natur», S. Fischer


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