Zur Sache! Neue Non-Fiction-Bücher
Eine Frau, die Massstäbe setzte

Mit Wissenschaft vom hohen Ross schlägt man Wahrheitsleugner und Wortverdreher nicht. Nur wer die wahren Werte vorlebt, entlarvt die Scharlatane und entzieht ihnen die Schar der Leichtgläubigen.
Publiziert: 26.01.2021 um 14:39 Uhr
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Aktualisiert: 09.04.2021 um 14:41 Uhr
ausgelesen von Dr. phil. Daniel Arnet

Brasiliens Präsident Jair Bolsonaro (65) spielt Corona als leichte Grippe herunter, die dementsprechend zu behandeln sei; Ex-US-Präsident Donald Trump (74) empfiehlt das Trinken von Desinfektionsmittel gegen das Virus; und Corona-Leugner in der Schweiz ziehen die Wirksamkeit der Impfung in Zweifel. Und jetzt lese ich: «Genau wie der Mensch, so wird auch die Menschheit in den Krankheits- und Schwächeperioden ihrer Geschichte immer wieder zum Opfer von Charlatanen, die sich als Ärzte für die Leiden ihrer Zeit anbieten.»

Ein topaktueller Text zum Meinungsstreit während der Corona-Pandemie? Nein, diese weisen Worte sind über 80 Jahre alt, sind 1937 im Buch «Die Macht des Charlatans» erschienen. Verfasserin ist die 1893 in Wien geborene Margarethe Weissenstein, welche Giulio De Francesco heiratete und schriftstellerisch unter dem Namen Grete De Francesco im Kunst- und Musikbetrieb tätig war. 1945 ermordeten sie die Nazis im KZ Ravensbrück. Nun erscheint ihr wissenschaftliches Standard- und Referenzwerk in einer mustergültigen Neuausgabe und zeigt die ungebrochene Aktualität des Textes.

«Charlatan» kommt vom italienischen «ciarlatano» und meint jemanden, der auf öffentlichen Plätzen Salben oder andere Medizin absetzt, der Zähne zieht und Taschenspielerkünste zeigt. Wider besseres Wissen trachtet er danach, das Falsche als echt feilzubieten und aus der Leichtgläubigkeit der Mitmenschen einen Vorteil zu ziehen. Grete De Francesco schreibt: «Die Macht des Charlatans ist auf Fälschung gegründet: frevelnd nimmt er Wahrheit, Wissen und Wort ihren Echtheitsgehalt.»

Geburtsstunde des Scharlatans ist die Renaissance – eine Epoche, in der sich das religiöse Dogma des Mittelalters auflöst, «eine Zeit, die nicht mehr den Glauben und noch nicht das Wissen hat», so De Francesco. Die Alchemie erlebt eine neue Blüte, und im darauffolgenden 17. Jahrhundert ziehen Scharen von Quacksalbern durch die Länder und verkaufen Riechsalze, Rosenkränze, Verjüngungswasser, Seifen, Geheimmedizin, heilige und weniger heilige Bildchen. Im 18. Jahrhundert löst dann Wundermechanik die Alchemie ab.

«Die Aufklärung erklärte und belehrte unentwegt» – und erreichte damit wenig, so De Francesco. Im Gegenteil: «Dass es Dinge und Probleme gibt, über die nur der urteilen kann, der sachliches Wissen besitzt, das sagten die Wissenschaften und erzeugten damit Hass.» Die wirksame Verneinung der Scharlatane sei deshalb nicht aus der Gelehrtenkaste oder von Königsthronen gekommen, schreibt De Francesco: «Am häufigsten fand sie sich bei jener kleinen Anzahl immuner Menschen, die unbekannt, ja sogar gemieden, als wären sie die Infizierten, neben der Herde der ‹Gläubigen› lebte.»

«Nicht indem sie als ‹eifrige Entlarver› agierten, zwangen sie die ‹Betrogenen und Halbbetrogenen› zu Innehalten und Nachdenken», schreibt De Francesco, «sondern indem sie das Faktum ihres Lebens und ihrer Handlungen als konkretes Wahrzeichen einer Wertwelt setzten, über der unangetastet die Wahrheit thront und in der ein Charlatan nichts als ein Charlatan ist.» Wenn das mal nicht ein Rezept gegen heutige Scharlatane ist!

Grete De Francesco, «Die Macht des Charlatans», Die Andere Bibliothek

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