Zur Sache! Neue Non-Fiction-Bücher
Der schönste Ort Italiens

«Oh, wie mein Herz in jungenhafter Leidenschaft entbrannte, als ich in der Ferne über Schilf und Wiesen die heilige Stadt sich erheben sah», schrieb einst Oscar Wilde über Ravenna. Dieses Buch entfacht das Feuer von Neuem.
Publiziert: 11.12.2022 um 06:00 Uhr
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Aktualisiert: 10.12.2022 um 20:25 Uhr
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Daniel ArnetRedaktor Gesellschaft / Magazin

Vergessen Sie Rom, Rimini oder San Remo: Ravenna muss das Ziel von Italienreisenden sein! Die Stadt mit einer Bevölkerung von rund 160'000 Menschen liegt auf der Adriaseite zehn Kilometer im Landesinneren, abseits der Touristenströme auf halber Strecke zwischen Venedig und Ancona. Einheimische gehen häufiger nach Ravenna, weil dort das Grabmal des italienischen Nationaldichters Dante (1265–1321) ist, ausländische Gäste weniger. Obwohl ich sicher schon ein Dutzend Mal den Stiefel bereiste, machte ich letzten Frühling erstmals den Abstecher – und war begeistert!

«Wenn Sie noch nie in Ravenna waren, haben Sie wirklich etwas verpasst», schreibt die britische Historikerin Judith Herrin (80) in ihrem kürzlich auf Deutsch erschienenen Buch. Es ist kein Reiseführer, sondern ein minutiös erkundetes Werk über die Blütezeit dieser Stadt von 402 bis 751. Die emeritierte Professorin für Spätantike und Byzantinische Studien am King's College in London bekam für das englische Original zu Recht den renommierten britischen Duff-Cooper-Preis 2020 für politische, historische und biografische Bücher.

«Hauptstadt des Imperiums, Schmelztiegel der Kulturen», nennt Herrin ihr Buch im Untertitel. Tatsächlich lag Ravenna zu einer Zeit, als es Venedig noch gar nicht gab, strategisch hervorragend am Meer, weshalb Kaiser Flavius Honorius (384–423) den befestigten Ort zur Hofstadt des Weströmischen Reiches machte – als Gegenpol zur oströmischen Kapitale Konstantinopel, dem heutigen Istanbul. In der dortigen Hagia Sophia bestaunen jährlich Tausende Touristen die byzantinische Mosaikkunst, doch in Ravenna gibt es davon noch viel mehr zu sehen.

Die wundersame Vermehrung von Brot und Fisch: Mosaik in der Basilika Sant'Apollinare Nuovo in Ravenna.
Foto: De Agostini/Getty Images

Das ist mitunter einer Frau zu verdanken. «Als im Jahr 402 der gesamte Hof von Mailand nach Ravenna umzog, wurde auch Galla Placidias kleines Gefolge aus der Gefahrenzone gebracht», schreibt Herrin. Placidia (390–450) war die Halbschwester von Kaiser Honorius. Als er starb, kam ihr Sohn Valentinian III. (419–455) nominell an die Macht. Da er aber noch ein Kind war, regierte die Mutter. «Vor allem in der ersten Phase, als Galla Placidia de facto die Herrscherin war», so Herrin, «können wir gut beobachten, wie sie zum Überleben des Weströmischen Reiches beitrug.»

Heute ist der Name Galla Placidia vor allem im Zusammenhang mit ihrem Mausoleum zu hören, das in Ravenna steht. «Mit seinem strahlenden Sternenhimmel und der blau-goldenen Dekoration ist es eine der schönsten Grabstätten, die je gebaut wurden», schreibt Herrin. «Wer möchte nicht unter einem solchen Aufgebot von Sternen, Tauben, Hirschen und Weinreben ruhen, mit Christus, den Evangelisten und dem heiligen Laurentius als Gesellschaft?» Die Überraschung: Placidia lag nie hier, starb in Rom und ist auch dort beerdigt.

Judith Herrin, «Ravenna – Hauptstadt des Imperiums, Schmelztiegel der Kulturen», wbg Theiss

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