Zur Sache! Neue Non-Fiction-Bücher
«Das Internet – diese fieberhafte, elektronische, unerträgliche Hölle»

In Schrift oder Bild, im Internet oder unter der Haut: Menschen können auf vielfältige Weise über sich Auskunft geben. Und noch nie taten sie es so freiwillig wie heute – mit zum Teil fatalen Konsequenzen.
Publiziert: 18.01.2022 um 00:00 Uhr
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Aktualisiert: 16.01.2022 um 14:52 Uhr
ausgelesen von Dr. phil. Daniel Arnet

«Welches Schweinderl hätten S’ denn gern?», fragt Moderator Robert Lembke (1913–1989) jeweils den Gast, der zwischen drei verschiedenfarbigen Sparschweinchen auswählen kann. Die vierköpfige Raterunde muss anschliessend herausfinden, welchen Beruf der Kandidat ausübt. Für jedes Nein, mit dem er antworten kann, klimpert ein Fünf-Mark-Stück in den Tierbauch. Ja, Sie erkennen an der Währung: Diese beliebte TV-Sendung gab es schon vor der Einführung des Euros.

«Die Ratesendung ‹Was bin ich?› startete 1961 nach US-amerikanischem Vorbild», schreibt der österreichische Historiker Valentin Groebner (59) in seinem neuen Buch. «Sie wurde die nach der ‹Tagesschau› langlebigste und populärste Sendung des deutschen Fernsehens.» Jahrzehntelang erhielt sie pro Monat bis zu 6000 Bewerbungen von Menschen, die öffentlich über sich Auskunft geben und möglichst mit einem prall gefüllten Sparsäuli nach Hause gehen wollten.

«Eine kurze Geschichte der Selbstauskunft» nennt Groebner sein Buch. Das Über-sich-Sprechen und Sich-Ausstellen mag seit Facebook, Instagram und Tiktok ein Massenphänomen sein, doch der Professor für Geschichte des Mittelalters und der Renaissance an der Universität Luzern ortet das Ich-Sagen schon früher in der Menschheitsgeschichte – auch wenn es damals noch kein freiwilliger Akt war wie heute im Internetzeitalter.

«Welches Schweinderl hätten S' denn gern?»: Robert Lembke und seine Ratesendung «Was bin ich?»
Foto: ullstein bild

«Seit dem 4. Laterankonzil von 1215 war jeder gläubige Christ verpflichtet», so Groebner, «einmal pro Jahr bei einem Priester die Beichte abzulegen und ihm alle seine Verfehlungen und Sünden zu berichten.» Von der lästigen Pflicht zur lustvollen Philosophie der Selbstauskunft dauert es keine 400 Jahre: 1580 veröffentlicht der französische Humanist Michel de Montaigne (1533–1592) seine «Essais» und gibt mit dem Titel seiner autobiografischen Versuche einer ganzen literarischen Gattung ihren Namen.

«Aber Selbstauskunft ist mehr als nur Erzählen», schreibt Groebner. «Selbstauskunft braucht Bilder – Fotos, von mir, von meinen Freundinnen und Freunden, von meiner Geschichte, von meiner Herkunft.» Und was geschieht, wenn sich Auskünfte zu Einkünften entwickeln, beschreibt die US-Bloggerin Jia Tolentino (33) in ihrem Buch «Trick Mirror» (2019), aus dem Groebner zitiert: «Ein Grossteil meines Lebens lässt sich nicht mehr trennen vom Internet – dieser fieberhaften, elektronischen, unerträglichen Hölle.»

Selbstauskunft geht unter die Haut – wortwörtlich, wenn man sich tätowieren lässt. «In Zeiten von Facebook, Instagram und Snapchat sind flüchtige Bilder zur Norm geworden», schreibt Groebner und fragt rhetorisch: «Ist es deswegen zwingend, dass dauerhafte Bilder eine solche Anziehungskraft entfalten, als pathetische Unwiderruflichkeit?» Eines ist für Groebner klar: Die Motive auf der nackten Haut offenbaren die nackte Wahrheit: «So sehen die erfüllten Wünsche anderer Leute aus.»

Valentin Groebner, «Bin ich das? Eine kurze Geschichte der Selbstauskunft», S. Fischer

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